Arbeiterkulturbewegung Neustadt

Von der Wiege bis zur Bahre

Politik, Konsum, Kultur, Sport und Erziehung: Das vergessene sozialdemokratische Alltagsleben im Osnabrück vor 1933 gab es auch im Osnabrücker Süden.

Wer sich mit der Geschichte der Osnabrücker Arbeiterbewegung in der Zeit vor 1933 befassen will, gerät schnell auf eine Schmalspur, wenn er speziell Sozialdemo­kratie nur als bloße Parteiorganisation darstellen will. Die alte SPD ist auch im Wohnbereich südlich des Rosenplatzes „Parteibewegung“, die nahezu alle Lebensbereiche umfaßt.

Auch in der Südstadt besitzen die Osnabrücker Sozis innerhalb der Arbeiterschaft bereits schon lange vor 1933 eine wichtige Position. Dafür garantieren allein schon die Belegschaften der Firmen Hammersen oder der Kesselschmiede. Der Osnabrücker Ortsverein der SPD wiederum ist im modernen Sinne eine Art Holdingge­sellschaft, die die politische Richtung bestimmt und dabei von meh­reren Stadtteilorganisationen unterstützt wird. Die „freien Gewerkschaften“, also die sozialdemokratischen Richtungsgewerkschaften, gliedern sich vornehmlich nach Berufszweigen auf. Das Reichsbanner „Schwarzrotgold“ ist sowohl militärähnliche Or­ganisation zum Schutz der Republik wie auch eine Ordnertruppe für Parteiveranstaltungen. Das Reichsbanner, das sich 1931 mit ge­werkschaftlichen „Hammerschaften“ und Arbeitersportlern zur „Eisernen Front“ zusammenschließt, ist nicht nur, aber vor allem SPD-orientiert.

Die Jüngsten der Partei sind in einer Vielzahl von Jugendorganisa­tionen aktiv: Kinderfreunde-Rote Falken, Sozialistische Arbeiterju­gend, Jungsozialisten. Jugendorganisationen haben darüber hinaus natürlich auch das Reichsbanner, die Einzelgewerkschaften, Arbei­tersportvereine, besonderen Stellenwert besitzen auch die Natur­freunde mitsamt ihres – mit eigenen Händen geschaffenen – Hauses in Vehrte.

Da der „bürgerliche“ Sport aufgrund seiner Ausgrenzung gegenüber Arbeitern, vor allem aber auch seiner ausschließlich leistungsso­rientierten und zudem militärisch ausgerichteten Struktur verpönt ist, organisieren sich Sozialdemokraten im „Arbeiterturn- und Sportbund“. Der wiederum bietet ein Angebot für fast alle Sportar­ten wie Turnen, Leichtathletik, Kanusport, Fußball, Handball, Schwimmen, Rad- und Kraftradsport. Angeschlossen ist außerdem der Arbeitersamariterbund, nicht zuletzt bietet man noch Schach für die „Denkakrobaten“. Besonders spielstark ist der 1925 gegründete und seitens seiner Mitgliedschaft stark am Kalkhügel verankerte FC Fortuna, der vorwiegend auf öffentlichen Plätzen wie an der Kokschen Straße spielt.

Nicht nur die Arbeitskraft, sondern auch die „Kaufkraft“ wird or­ganisiert, indem man dem kapitalistischen Wirtschaftsleben über den „Konsum- und Sparverein“ die Stirn bieten will. Hier kann man per Mitgliedschaft günstiger einkaufen, ist an Gewinnausschüttun­gen beteiligt und kann sich darüber hinaus mit Stimmrecht an der Selbstverwaltung des Wirtschaftsbereichs beteiligen. Der Leitspruch „Im Konsum kaufen kluge Leute“ wurde in vielen Stadtteilen Osnabrücks recht nachhaltig verfolgt. Im Jahre 1927 kündet eine Festschrift stolz über 15 soge­nannte „Verteilungsstellen“ des „Konsum- und Sparvereins Osnabrück und Umgebung“. Den Ausdruck „Laden“ vermeiden die Konsumgenossenschafter bewusst, denn bei Läden geht es um kommerzielle Werbung und Gewinnspannen. Bei den Verteilungsstellen wird der Gewinn am Jahresende an die Mitglieder ausgeschüttet. Die Weihnachtsgans dürfte dabei immer drin sein. Zentraler Anziehungspunkt ist für „Konsum-Genossen“ aus dem Kalkhügel-Bereich ist im übrigen die Verteilungsstelle mitsamt Sparkasse und Schlachterei in der Johannisstraße 132, eine kleinere für unmittelbare Bedürfnisse ist aber auch in der Marthastraße 2

Aktiv besetzte Felder der Sozialpolitik bietet auch in Osnabrück die 1919 gegründete Arbeiterwohlfahrt. Verschiedenste Versicherungsleistungen bietet die Volksfürsorge. Lesehungrigen steht eine eigene Parteibücherei und das große Re­pertoire der Büchergilde Gutenberg zur Verfügung.

Volksbühne und Arbeitergesangvereine, seit 1931 auch ein Sprech- und Bewegungschor, bereichern das Organisationsleben der Sozial­demokratie insbesondere hinsichtlich seiner ausgeprägten Festkul­tur: Die Märzfeier eingedenk der 1848er-Revolution, der 1. Mai, der internationale Genossenschaftstag am 4. Juli, die Verfassungs­feier am 11. August, letztendlich die Revolutionsfeier am 9. No­vember werden auch rund um den Kalkhügel bewusst als Alternativen zu konfessionellen oder anderweitigen Feiertagen begriffen und gestaltet. Dem schon 1914 verstorbenen und legendären Chorleiter Wilhelm Wendte – Spitzname „Der rote Wendte“ – wird übrigens auf dem Johannisfriedhof ein imposanter Grabstein mit der Inschrift „Die Fahne steht – wenn der Mann auch fällt“ gesetzt.

Letztendlich unterstreicht ein eigener „Verein der Freidenker für Feuerbestattung“, daß man dem Leitspruch „von der Wiege bis zur Bahre“ tatsächlich sogar über alle Lebensphasen hinaus nachkommen will.

All diese Vielzahl an Organisationen, welche allesamt versuchen, Solidarität und Sozialismus vorzuleben, findet sich schließlich in einer Tageszei­tung wieder, die auch rund um den Kalkhügel in vorwiegend sozialdemokratischen Haushalten gelesen wird: Die Freie Presse berichtet über alle Geschehnisse und Termine der großen Osnabrücker SPD-Familie.

Wie die gesamte Arbeiterbewegung im Reich wird auch das reichhal­tige Organisationsleben der Osnabrücker Sozialdemokratie nach dem 30. Januar 1933 auf brutalste Weise zerschlagen. Als das Bürgervorsteherkolleg Osnabrücks am 20. April unter der Nazifahne tagt, wird in Abwesenheit der schon „illegalen“ SPD-Ratsmitglieder beschlossen, daß sämtlichen „marxisti­schen Vereinen, Sportvereinen, Jugendorganisationen, Gesangvereinen u.s.w.“ die Benutzung städtischer Grundstücke zu sperren wäre. Im Gleichklang folgte die Konfiszierend des unmittelbaren Eigentums, schließlich Mißhandlungen und Verhaftungen zahlreicher Aktiver. Konsumvereine oder Büchergilde Gutenberg werden mit einer NS-Führung versehen und gleichgeschaltet.

Einer von mindestens vier Osnabrücker Sozialdemokraten, die im KZ ermordet wurden, ist Wilhelm Mentrup, der spätere Namensgeber des gleichlautenden Weges südlich des Ziegenbrinks. Ebenfalls aus der Arbeiterbewegung entstammt die ermordete Widerstandskämpferin Lissy Rieke, nach der auch eine benachbarte Straße benannt wird.

Dass Osnabrücker Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nach 1945 ganz vorneweg dabei sind, ein demokratisches Osnabrück aufzu­bauen, das verdanken sie nicht zuletzt ihrer Erziehung in einem sozial­demokratischen Organisationsnetz. Denn in diesen vielen Inseln sozialistischer Demokratie wurde vor 1933 das demokratische Handwerkszeug erprobt, das für die Fundamente des Gemeinwesens so unverzichtbar ist.

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