Pedalen bremsen Uhrzeiger

Impressionen einer Radtour zwischen Donau und Bodensee 

Wieso eigentlich?
Es gibt Zeilen, die haben eigentlich gar nichts mit Osnabrück zu tun. Höchstens dergestalt, dass auch an der Hase Fernweh gedeiht und die Stadt liebend gern als Sprungbrett dient, um von hier aus die ferne Außenwelt zu erkunden und dortige Erlebnisse an den Maßstäben Osnabrücker Innenwelten zu messen.
In meinem Fall geschieht dies nicht per Flugticket vom FMO oder auf donnernden Pferdestärken. Ich mag es viel lieber „ganz grün“ – per Bahn und Rad.

„Nur auf dem Fahrrad, 500 km, mit Zelt – und auch noch ganz alleine?“. Die Masse der ungläubig Fragenden erreicht zu Hause astronomische Ausmaße. Wenn ich dann noch erzähle, dass ich solche Trips erst seit Anfang fünfzig unternehme, ernte ich allenfalls ein mitleidiges Lächeln. Ich höre Weisheiten über Männer jenseits der Midlife-Crisis, Belehrendes über Jugendwahn im Alter, höflicher oder gar soziologisch gesagt: über typische Ausdrucksformen der Anti-Aging-Bewegung.
Ich nehme all diese Kommentare lächelnd, zuweilen interessiert, im Grunde aber als zweitrangig zur Kenntnis. Ein Grund mehr für den Luxus eines mehrtägigen Alleinseins, bei dem höchstens ich selbst und niemand sonst Eigenanalysen erstellt oder eigenartige Sinnfragen an mich richtet.

Um es auf den Punkt zu bringen: Ich stand dazu, stehe dazu – und werde weiterhin, solange mir meine Gesundheit dies ermöglicht – eine knappe Woche pro Jahr zeltbepackt die Stadt verlassen und irgendwo umher rasen. Ob dies der Suche nach mir selbst oder schlichtweg der nach der korrekten Route dient, ist mir egal. Denn die Vorteile, die ich solchen Fahrten abgewinne, zeigt einzig und allein die Skala meiner eigenen Wohlfühl-Temperatur.
Und exakt diese rast ganz schnell auf Höchstwerte, wann immer ich mir jene Fragen nicht mehr beantworten muss, die gemeinhin als rhetorisch gelten:
Wann sonst, ermittle ich dann, habe ich die Chance, jeden Meter einer Reise nicht durch eine sterile Auto- oder Waggonscheibe zu betrachten, sondern zu atmen, zu riechen und zu schmecken? Wann sonst bestimme ich auf jedem Meter ganz allein, ob ich anhalte, Rast mache, Kursänderungen vornehme – oder schlichtweg im eigenen Schnelltempo weiterrase, ohne jede Rücksicht auf fiktive Begleitpersonen? Wie sonst erlebe ich in dieser durchorganisierten, ständig durchgeplanten Wochen-Routine noch so etwas wie kleine Abenteuer, die ich doch seit Jugendzeiten immer irgendwie suchen wollte und zu denen ich nie gekommen bin?
Und dann gilt vor allem jener Faktor, der mir nachhaltig der allerwichtigste ist: Einmal mehr wird es mir gelingen, ein Chronometer in Chronozentimeter zu verwandeln. Mit anderen Worten: um Zeit radikal abzubremsen. Indem ich das Gefühl empfange, an einem geradelten Tag so viel zu erleben wie sonst in routinierten Endlos-Wochen. Mal eben keine Phase voller gähnender Wiederholungen. Dafür Premieren im Minutentakt. Kurzum: Pedalen bremsen Uhrzeiger!
Ein anderer Punkt hängt mit einer Parallele zu meinen bisherigen Marathonläufen zusammen, die mich immer wieder zu eigenartigen, wahrscheinlich ganz unprofessionellen Selbstdiagnosen führt: Bei derartigen Läufen wie bei strapaziösen Radtouren kommen Phasen, in denen ich ganz nahe am Punkt des Aufhörens bin und mich permanent frage, was dieser Irrsinn, dieser Generalangriff auf Hirn, Psyche, Muskeln, Gelenke, Herz und Lunge eigentlich soll. Die Antwort steht hinter dem Ziel und dokumentiert eine Art Wunder: Kaum sind die benebelten Sinne wieder halbwegs beisammen, zieht ein Sturm irgendwelcher Morphine durch die Gehirnzellen und durchdröhnt den Körper mit den merkwürdigsten Glücksgefühlen. In Bio hatte ich eine dicke Fünf, also belasse ich es lieber dabei.

Den Fitness-Faktor nenne ich hier nur deshalb, weil er natürlich dazu gehört, aber schon abgedroschen klingt: Mit Ende 50 noch zuweilen 150 km pro Tag zu fahren, hätte ich mir als Junger von Tattergreisen meines Alters nicht vorstellen können. Und dass ich noch ohne nennenswerte Bandscheibenprobleme auf der Schlafrolle nächtigen und mich ohne gebrochenes Kreuz aus meinem Zelt bewegen kann, freut mich doch insgeheim. Am Ende hängt auch viel mit einer Parallelreise zusammen: Der Reise in mich selbst gewissermaßen. Dies nicht hochphilosophisch oder gar metaphysisch-esoterisch, sondern realphysisch: Was kann ich noch ab, wie lade ich den Akku wieder auf, wie verdammt nochmal schaffe ich die nächste Steigung, ohne schmählich und resigniert zu schieben?
Und auch die Heimkehr nach Osnabrück ist in solchen Fällen irgendwie besonders. Ich habe beachtliche Plackereien hinter mir, dennoch einen Riesensack neuer Erfahrungen gewonnen, habe meine ganz persönliche Leistungsbilanz erweitert – und kann mich, zufrieden mit mir und der Welt, erneut mit gutem Schwung dem Osnabrücker Alltag widmen.

Dies nur vorweg als Vorwort für alle unverdrossenen Zweifler, die das bleiben dürfen. Man darf ja auch erklären, ohne zu überzeugen.
Donau-Bodensee: Warum nicht?
In Mußestunden bemale ich daheim alljährlich eine Deutschlandkarte per Edding mit solchen Routen, die ich schon irgendwann unter den Reifen hatte. Holland-Nord und -Süd, Teile von England, Frankreich oder Belgien, wo ich auch schon unterwegs war, muss ich mir dann immer dazu denken. Lupenrein national waren Touren an der Ostsee von Lübeck nach Usedom, von Bremen nach Mecklenburg, den Rhein hinunter bis Bayern, auch Dresden blieb einmal ein markanter Zielpunkt.
Etwas arm an Eddingspuren war bislang die Südhälfte meiner Radkarte. Donau und Bodensee zum Beispiel. Zumal das größte Gewässer Mitteleuropas Mehrstaatenaufenthalte verspricht: Deutschland, Schweiz, Österreich, sogar Bayern ist da immerhin mit optischer Trennlinie verzeichnet. Vierland eben.
Vorab, wie vor jeder Reise, der Blick auf den gefüllten Terminkalender: Zur Verfügung steht – nach Bahnanfahrt gen Ulm – der späte Sonntagnachmittag. Ankunft muss Freitag früh in Friedrichshafen zum Rücktransport sein, rundum knapp 500 km auf dem harten Sattel. Gemerkt, gedacht und schnell beschlossen: Von Ulm aus Donau-aufwärts, dann runter zum Bodensee, um diesen gänzlich zu umrunden.
Packen, Laden, Gleise
Eine ganz eigene, nicht ganz so vergnügliche Phase ist das richtige Packen. Zelt, Schlafrolle, Schlafsack, Kocher, Karten und Rad-Basis-Klamotten sind, wie der Jugendherbergsausweis für Zivilisationspausen, gesetzt.  Der Rest wird, minimiert, in die üblichen knallroten Ortlieb-Taschen gequetscht. Wie immer wird alles ohnehin schwer – und mein nagelneues weißes 29-er Mountainbike der Marke Bulls verkraftet allenfalls 25 kg Gepäcklast, die ich allerdings trotz Übergepäck deutlich unterschreite.

Dann kommt der Osnabrücker Hauptbahnhof als nächste Stufe der Vorqualifikation. Das vertraute Ensemble am Bahnhofsvorplatz verstärkt keinerlei Heimwehgefühl. Ein als Startrampe in die Welt bewährter Bahnsteig ist schnell erreicht.
Anweisungsgemäß klicke ich im Ortlieb-Modus das Riesengepäck ab, nachdem der Zug hält und zwänge Rad, Taschen und mich selbst in den Fahrrad-Waggon. Da muss ich mein Gefährt mühsam unter die Decke wuchten, wo ein enger Haken zur Aufhängung meines stolzen Untersatzes dient.
Auf dem reservierten Platz verschnaufe ich bis zum Kölner Umsteigebahnhof. Es gibt angenehmere Dinge, als das Rad wieder wuchtig vollzuladen, um es dann über Endlostreppen zu den angegebenen Bahnsteigen via Endlos-Treppen hinauf- oder herunter zu schleppen. Wiederholt kostet das kleine Blutergüsse und Schrammen auf den nackten Waden. Etwas fehlt nämlich. In Osnabrück weiß ich ihn immer wieder zu schätzen. Aber wo zum Teufel war hier in der Domstadt der Fahrstuhl?
Also  schleppen, also packen, einladen und hinsetzen. Same procedure …
Kurzum: Vorqualifikation bestanden, ich vermeide Wiederholungen und setze endlich wieder am Zielort ein:
Der Startschuss
Ulm ist zweifellos eine interessante, wunderschöne Stadt mit seinem typischen Münster und ungezählten Attraktionen. Auf die muss, besser will ich aber heute verzichten. Denn der enge Zeitplan, es ist schon beinahe halb fünf nachmittags, verlangt ein schnelles Durchstarten.
Ich finde mich toll, denn ich erspähe umgehend ein Schild „Zum Donauradweg“, zurre mein Gepäck noch einmal fest und sause begeistert los. Es geht stadtauswärts, sieht aber nicht so interessant aus, dass ich optische Genusspunkte verpasse. Am Stadtrand überfallen mich dann doch Zweifel, ob ich den verdammten Fluss noch erreiche – vor allem die richtige Fahrtrichtung, denn ich will ja heute nicht gen Österreich-Ungarn.
Der Frust trifft mich tief, als mir mürrische Einheimische auf Anfrage erklären, dass ich exakt in die falsche Richtung gefahren bin. „Zurück auf Los!“ also. Ein kleiner Vorteil bleibt, dass ich zumindest direkt am hochgereckten Ulmer Münster vorbeifahre, wo gerade Chöre von Bibelfesten singen, deren Ordner mir nun sehr freundlich die endgültig richtige Spur weisen.
Was hilft es? Der angebrochene erste halbe Fahrtag beginnt mit 10 km Fehlfahrt. Jetzt aber los, es ist 17.00 Uhr, ab unter grauem Himmel mit einsetzendem Nieselregen.
Schaffe ich es gar bis Sigmaringen? In einem Anfall von  Selbstüberschätzung hatte ich mich da bereits von Osnabrück aus in der dortigen Jugendherberge angemeldet. Mindestens 90 km wären, hatte ich gedacht, bis zum Türabschließen um 21.00 Uhr zu schaffen. Mein Selbsteingeständnis, dass ich das heute bei weitem nicht mehr hinbekomme, steigern Depressionen und mindern jedes Selbstwertgefühl. Ich fahre grimmig weiter, der Regen wird heftiger, ich werfe mich in meine Tschibo-Regenjacke.
Nur wenig mehr als 40 km auf dem Tacho, überkommt mich ruckartig ein psychologischer Schwächeanfall. Ein Gasthaus im verregneten Ehingen verspricht „Fremdenzimmer“. Ich fremdele mit mir selbst, steige ab und erkundige mich beim muffeligen Gastwirt nach dem Preis. 37 Euro mit Frühstück machen mich schwach.

Ich quartiere mich ein, verzehre einen Teller Spaghetti, bewundere im Fremdenzimmer die gegen England obsiegenden Italia-Kicker und beende später eingeschlafen den kilometerarmen und wettermäßig allzu bescheidenen ersten Tag. Ein Anruf in der familiären Heimatstadt beruhigt. Zumindest da ist noch alles beim alten.
Montag: Von Ehingen nach Ueberlingen
Nun aber los. Nur kurze Zeit gilt am Frühstückstisch der Sehnsucht nach Osnabrücker Vollkornbrötchen, weil ich in helle Pappexemplare des Gasthauses beißen muss. Ein schwäbischer Nachbar erläutert mir, ich könne womöglich schon ab Menden in Richtung Bodensee abbiegen.
Route und Richtung stimmen nun überein. Nieselregen und grauer Himmel sind egal. Ich starte im Gang eines vom Ehrgeiz zerfressenen Pacemakers, der Kilometer gutmachen muss.
Über 20 km Durchschnittstempo sind schnell erreicht, zumal die Reize zum Gucken ins Landschaftspanorama bescheiden sind. Die Donau sehe ich eher selten. Allzu häufig umfahre ich Gewerbegebiete und rase über endlos erscheinende einsame Asphaltrouten inmitten von bäuerlich bestellten Feldern.
Mist! Es scheppert schon wieder. So stolz ich auf mein weißes Gefährt mit den großen dicken Reifen bin, desto nerviger sind irgendwelche klimpernden Fahrgeräusche. Hätte ich die in Osnabrück bloß noch einmal erforschen lassen! Alles erschallt so wie der Klang aus meiner längst abgelegten Auto-Vergangenheit: Als damals die Bremsbacken meines studentischen R4 zerdepperten, angeblich repariert von einem billigen Alternativ-Mechaniker, zwirbelten sie ähnlich klingend durch irgendwelche Hohlräume. Danach funktionierte so manches, nur nicht mehr die Bremsen. Und heute? Ich verdränge alles. Wird schon nicht schlimm sein. Ich will, nein, ich muss schließlich weiter.
Berg und Tal, schalten, Luft holen, Tempo so schnell bergab, dass es mit Schwung wieder, wie von allein, bergauf geht. Es beginnt sogar, richtig gut zu laufen – und der Tacho zeigt schon beachtliche Zahlen.
Es fängt – um mich herum – sogar an, idyllisch zu werden. Klasse! Die Sonne scheint plötzlich auch noch, Vögel zwitschern, alles gut.

Gerade will ich tapfer eine überraschend vor mir auftauchende Steigung erklimmen, da knallt es laut. Ich bremse, bemühe mich, mit dem Riesengepäck das Gleichgewicht zu halten – und blicke in Pedalrichtung: Die Kette hat sich verheddert, ist aber noch ganz. Doch der verdammte Kettenschutz hat sich verbogen und alle Einzelglieder verbarrikadiert.
Ich mache in Ruhe das, was ich schon zu Hause mit Geduld erlernt habe: Gepäck abbauen, Werkzeug suchen, Rad auf den Kopf stellen, Kettenschutz abschrauben. Zumindest Kette und Zahnkränze wirken schnell wieder normal. Der verbogene Kettenschutz gehört fortan zum absolut überflüssigen Reisegepäck. Aber Osnabrücker wie ich wissen ja nie, ob sie Müll noch irgendwie verwenden können.

Weiter also.
Wenn ich zu Hause etwas schätze, sind dies vertraute Beschilderungen, sobald ich nicht mehr weiter weiß. Die badisch-schwäbischen Varianten glaube ich allmählich auch schon zu kennen und komme voran. Nur einmal folge ich einem verschmutzten gelben Radweg-Schild, was mich einige Kilometer in das führt, was ein von mir ratlos gefragter Schwabe als „Pampa“ bezeichnet. Aber so etwas passiert nun mal.
Ich schwitze, es wird wärmer. Irgendwo am Straßenrand, inmitten ganzer Kolonnen geräuschvoll durchdröhnender LKWs, steht ein Obststand. Eigentlich wollte ich beim betagten Händler nur ein paar Kirschen und wenige Erdbeeren erstehen. Ich erhalte voller Großmut eine Riesenschale mit beidem. In Osnabrück hatte ich gelernt, alles, was serviert wird, zu verspeisen. Ich verspeise.
Eine Bäckerin befrage ich neugierig wie laut, warum man in dieser Dorfstraße nichts anderes als LKW-Gedröhne vernimmt. „Dasch isch de Maut-Nebenstreck“, erläutert sie mir in der Landessprache, die ich allmählich akkustisch zu verstehen beginne. Die sinnlose Nebenstrecke, die jetzt alles andere erstickt und überdies meine Fahrfreude minimiert, verstehe ich weniger.
Als endlich der Lärmpegel sinkt, aste ich durch eine steile Bergtour. Das Zwischenziel ist ein Dorf namens Wald. Plötzlich erreicht mich ein älterer Einheimischer, der mir die Route erklärt, indem er, sparsam tretend, bergauf voranfährt. Ich habe Mühe, mitzuhalten, merke aber dann, dass der gute Mann, wie er mir erläutert, soeben das E-Bike seiner Gattin testet. E-Bike? Welch Anschlag auf mein Trainingsethos! Als wir Wald erreichen, überhole ich den guten Mann dankend, um ihn dann natürlich auf gerader Strecke triumphierend, undankbar und gnadenlos abzuhängen. Mein erster sportlicher Vorsatz dieser Fahrt ist gefasst: Nie soll mich mehr ein E-Bike überholen! Es soll auch am Bodensee schwer werden. Aber ich werde es tatsächlich schaffen.

Osnabrücker wie ich müssen manche Fehler wohl mindestens zweimal machen. Nur noch 10 km vor meinem Zielort Ueberlingen, mitten auf einer nicht ungefährlichen, aber gut asphaltierten Bundesstraße, lenkt ein irgendwie bekanntes, schmuddelig-gelbes Schild in einen angeblichen  Radweg. Ich biege in ein dunkles Waldstück ein und rase holprig und scheppernd  über Wegekrater in den Abgrund. Unwegsam und steil geht es immer tiefer hinunter. Die Hoffnung bleibt die Abkürzung. Doch der Weg endet nicht nur im Tal, sondern auch im Nichts. Kein Weg mehr. Nur noch Anstiege ohne jede Schneise. Wildwuchs, Felder, Unkraut, Brennnessel, summende Insekten auf der Jagd nach meinem Blut und der Zugabe eines nie endenden Juckreizes. Der vorläufige Tiefpunkt ist erreicht – nicht nur höhentechnisch. Jetzt weiß ich, warum auch der Weg in die biblische Hölle nach unten führt.

Ganz in der Ferne, unendlich weit weg, erahne ich die sinnlos verlassene Bundesstraße. Auch ein bewohntes Haus erscheint am weiten Horizont und weckt Phantasien meiner Rettung, und zwar für den Fall, dass ich dieses Gebäude irgendwann entkräftet auf allen vieren erreichen muss. Aber Osnabrücker geben ja nicht auf.
Ich schiebe mein unsäglich schweres und breites Gefährt mitten durch die Pampa in Richtung Horizont. Jetzt fehlt ein Buschmesser! Grünzeug verfängt sich in meinen Zahnkränzen. Stechbrummer saugen an mir. Gezweig und Schlingergewächse wetteifern mit meinen statischen Pedalen darum, wer meinen nackten Beinen mehr blutige Blessuren zufügt.  Weiter drücken! Weiter schieben! Endlos erscheinende Vorwärtsbewegungen im gefühlten Millimetertakt. Ich fluche .
Irgendwie schaffe ich es tatsächlich. Nie zuvor hat mich eine reich befahrende Asphaltstraße so glücklich gemacht.
Dann oben die Wende: Sollte es, etwa nach dem Vorbild der antiken Götterwelt, ein höheres Wesen für Radfahrergerechtigkeit geben, dann war diese Gestalt wohl plötzlich zur Stelle. Schon am Straßenrand erkenne ich nicht nur den ersehnten Bodensee samt Ueberlingen, sondern überdies den Straßenverlauf: Es geht nur noch bergab! Der Leerlauf reicht bis Ueberlingen, wenige Pedaltritte benötigt nur noch der Campingplatz. Auch mein Tacho-Stand scheint vom entdeckten Fahrrad-Gott beeinflusst: 125 km Tagesleistung. Immerhin.
Kleinwelt auf dem Campingplatz
Wenn die Selbstvertrauenslinie eines Osnabrückers schon einmal bescheiden nach oben zeigt, werden zuweilen Gipfelstürmer geboren.
So etwas verläuft manchmal ganz simpel. Ich baue mein Aldi-Zelt routiniert neben die Behausung eines brummig-eingekehrt wirkenden Cottbuser Motorradfahrers auf. Vor mir erstreckt sich der Bodensee in ganzer Fülle. Links von mir campt dann ein jüngeres, aber zweifellos hochintelligentes Fahrrad-Pärchen.
Und dann kommt es: Der Mann gewährt mir nach kurzem Small-Talk meinen ganz persönlichen Ritterschlag: „Du bist ja wohl sicher der Vollprofi“, resümiert er. „Du schaust aus wie einer, der schon ein ganzes Jahr lang unterwegs ist.“
Das tut so gut, dass ich nicht einmal mehr weiß, welch sinnige Antwort ich offenbare. Natürlich gebe ich eine, ohne die Hochachtung des Ritterschlagenden zu mindern. Wenn schon stolz, dann richtig.
Solch begnadete Reisende wie ich müssen sich dann natürlich auch belohnen. Für einen City-Gang ist es zu spät. Auf dem Zeltplatz geselle ich mich zum italienischen Gastro-Betreiber und bestellte eine Fischplatte nach Marke des Hauses.
Es tut gut, nach Sonnenuntergang darüber zu sinnieren, welch hartgesottene Vollprofis und Weltenbummler doch so alles aus Osnabrück kommen können.
Nur leicht getrübt wird meine professionelle Euphorie durch den Geräuschpegel der ersten Zeltnacht. Anfangsprobleme, mich ans Schlafen auf meiner Schlafrolle zu gewöhnen, waren mir bekannt. 5 cm Liegedicke müssen eingeschlafen werden. Ungeplant dagegen ist jetzt der laute Schnarchpegel meines Cottbuser Zeltnachbarn. Der hat offenbar den Ehrgeiz entwickelt, ausgerechnet in dieser Nacht große Teile seines Spreewaldes abzusägen.

Dienstag: Rund um die Zahnwurzel
„Vollprofis“ müssen natürlich souverän in ihren Tagesplänen sein. Schon das Kartenstudium beim vorabendlichen Italiener hatte mir eingegeben, was heute anstehen soll. Zumal mein Zelt gut steht und die Lust zum Packen nur spärlich vorhanden ist, entschließe ich mich zur Tour entlang der Ufer jener kleinen Teil-Seen links von Konstanz, um von dort aus irgendwann wieder auf den heimischen Zeltplatz zurück zu gelangen.
Da sich die beiden Teilseen, verglichen mit dem Hauptgewässer, ähnlich wie Zahn und Wurzel zueinander verhalten, taufe ich meine Route zur „Zahnwurzeltour“.
Ich genehmige mir ein Frühstück mit hellen Papp-Brötchen bei einer russisch-stämmigen Kiosk-Betreiberin. Weder Papp-Exemplare noch die allein angebotene Marmelade sättigten wirklich. Doch ich starte trotzdem kraftvoll durch. Das Rad scheppert wieder, rast aber gut. Die dicken Reifen summen wie ein Formel-1-Gefährt.

Zunächst lerne ich, dass es nicht nur das Ludwigshafen eines für Spießigkeit bekannten Altbundeskanzlers Kohl gibt. In diesem Ludwigshafen am Bodensee erfasse ich, dass angeblich urkonservative Baden-Württemberger auch respektlos sein können. Offiziell im Nahbereich des dortigen Rathauses erblicke ich ein hauswandgroßes Relief eines Künstlers, der Oettinger, Bush, Schröder bis hin zu Merkel als unbekleidete, sich gegenseitig in die Geschlechtsteile greifende „Global Player“ zeigt.
Weiter geht die Zahnwurzelbereisung. Nach der Durchfahrung des Dorfes Bodman erleide ich blitzartig wahre Hunger-Qualen. Fleischeslust gewissermaßen. In Radolfzell genehmige ich mir, entgegen meiner selbstverordneten Säugerfleischabstinenz, einen sehr fetten Döner und lasse ihn mir vollmundig schmecken.

Der nächste Ort, der zum Umschauen einlädt, ist Stein am Rhein. Hätte mich hier jemand nach Reise-Vorwissen gefragt, wäre ich schmählich durchgefallen. Ganz unbemerkt war ich nämlich in die Schweiz geraten und hätte die hübsch bemalten Häuserfassaden des Städtchens unbedenklich als Ausdruck süddeutscher Häusle-Kunst durchgehen lassen. Erst ein Blick auf die Speisekarte einer kurz erwogenen Eisdiele lässt mich angesichts der Preise erbleichen: 12,50 für ein Gläschen mit wenigen Kugeln. Peinlich, dass einer wie ich das Überschreiten einer Landesgrenze erst anhand von lapidaren Speisekarten erkennt. Ich genehmige mir dann trotzdem ein Eis, allerdings einen selbstgemachten Vanilleeis-Becher inmitten eines Lädchens. Dort befolge ich auch den Tipp einer freundlichen Schweizer Verkäuferin, meine leergetrunkenen Radflaschen am Brunnen in der Hauptstraße zu füllen.

Weiter geht es also in der Schweiz. Es ist nicht schwer, der Radroute zu folgen. Alle vorgenommenen Kilometer verlaufen parallel zu den Bahngleisen. Beschildert sind die Strecken mit typischen roten Emblemen, auf denen weiß eingedruckte Fahrräder, zuweilen auch geheimnisvolle vier Kreise zu sehen sind. Erst später lasse ich mir meine Vermutung bestätigen, dass jene merkwürdigen Kreise Inliner-Strecken markieren.

Gen Kreuzlingen-Konstanz, einer einmaligen deutsch-schweizerischen Doppelstadt mit Zollgrenze, bewege ich mich mit merklichen Magenereignissen. Ich merke, dass sich in meinem Inneren etwas tut, was sich in nicht näher zu bezeichnenden dunkelflüssigen Körperentlastungen ausdrückt.
Anders gesagt: In meinem Magen herrscht eine Art Revolution. Ob die Beteiligten daran schlechtes Wasser aus einem Schweizer Straßenbrunnen, der Riesen-Döner oder Rudimente meines Kirsch- und Erdbeerattentats sind? Die Antwort kennt wohl nur der Fahrtwind.
Da ich gleichwohl diagnostiziere, dass es zumindest Muskeln und Gelenken gut geht, fahre ich zielstrebig gen Konstanz, nachdem ich den Schweizer „Vorort“ Kreuzlingen durchquert und jedwede Zollstationen erfolgreich umkurvt habe. Inmitten der Konstanzer Fußgängerzone überkommt mich erneut ein kleiner Hungeranfall. Ich verspeise zum Cappuccino bei einem schwäbischen Chinesen überbackene Bananen mit Honig. Gewissensbisse? Ein Notgang auf die Toilette verrät mir, dass ich sie hätte haben sollen.
Aber was soll es? Ein echter Profi gesundet schon von selbst, sage ich mir, radle weiter und beäuge etwas ungläubig ein Schild, das von ganzen 10 km bis nach Ueberlingen spricht. Ob alle Osnabrücker so schildertreu sind wie ich, weiß ich nicht. In meinem Fall wären heute Abend  aber gesunder Zweifel zielführender gewesen.
Die Fahrt über Berg und Tal verläuft anstrengend, aber zufriedenstellend. Das vermeintliche Ueberlingen, mein Zeltstandort also, rückt auch näher. 10 km sind schließlich ja auch zu schaffen – und werden es.
Da ich nun eigentlich zu Hause sein sollte, beunruhigen mich eher unbekannte Plätze. War das eben mein Campingplatz? Ich beginne umher zu irren und lande am Ende an einem Bootsanlegesteg. Ja. Dort steht Ueberlingen auf einem Schiff, das gerade ablegt. Eine schwäbische Passantin klärt mich auf, dass das Schiff nur noch zum Heimathafen tuckert und die Besatzung dem verdienten Feierabend entgegensieht. Den gönne ich ihnen.
Meine verzweifelte Frage aber, was ich jetzt tun solle, beantwortet der grinsende Gatte der Gefragten mit der drakonischen Botschaft, ich könne mir ja bis etwa ein Uhr des Nachts Zeit nehmen, dann könnte ich Ueberlingen über einen steilen Waldberg erreichen. Die Schwabenfrau ruft entsetzt dazwischen, dies ginge ja nun gar nicht, denn ich müsste hoch im dunklen Wald über schmalste Fährten crossen. Besser wäre es, zurück nach Konstanz zu fahren und die dortige Fähre nach Mersburg zu erwischen. Sie hat wohl recht.
Natürlich bedanke ich mich und radle zurück. Die Kondition wird merklich geringer, und alle zuvor hinab gesausten Berge werden zur Qual. Aber irgendwann ist am Ende alles doch geschafft. Ich schiffe mich ein, überquere den See via Fähre, würdige das hübsche Mersburg keines Blickes und radle mit eingeschalteter Beleuchtung nach Ueberlingen. Tages-Tachostand am Ende: 140 km.
Dem italienischen Gastwirt kündige ich triumphierend die Prozedur des Vortages an: Ich bestelle Spaghetti mit Pizza-Brot und dusche, bis der Gute die gewünschten Speisen serviert, welche ich heißhungrig verschlinge.
Ein Vorteil der unnötigen Kiometerplackerei zeigt sich in der Nachtruhe. Der Cottbuser Zeltnachbar sägt ähnlich viele Spreewaldbäume ab wie in der Vornacht – aber ich schlafe deutlich besser.

Mittwoch: Der Rest-See wird umrundet
Ich nehme mir einen betulicheren Tagesablauf vor. Als Frühstücksort erwähle ich die Fußgängerzone von Ueberlingen, wo ich meinem gestressten Magen einen großen Kaffee zumute. Mein Organ verkraftet ihn mitsamt zweier Papp-Brötchen, die hier scheinbar stündlich neu geklont werden, um identisch fade zu schmecken.
In Mersburg überfallen mich erneut leichte Anfälle eines schlechten Gewissens. Wieder verlasse ich den hübschen Ort unbeachtet. Aber wer, wie ich, Kilometer futtern will, muss verschmähen, was er schon einmal vor Jahren ausgekostet hat. Mersburg, seine alte Burg und das darin versteckte Arbeitszimmer von Annette von Droste-Hülshoff kannte ich ja. Heute soll alles neu sein.
Die Fähre offenbart Beinen und Pedalen eine kurze Ruhepause. Umso konsequenter geht es danach durch Konstanz und Kreuzlingen. Das Schweizer Rest-Ufer wartet. Linksrum!

Der Karte entnehme ich auch heute, dass Radroute und Bahnschienen strikt parallel zueinander verlaufen. Das macht den Tourenverlauf so überraschend wie die festgestanzte Spur auf einer Carrera-Bahn. Aber egal. So erspare ich mir wenigstens die gewohnten Irrfahrten ins Nirgendwo. Und auch die Sozialkontakte zu Einheimischen, die ich sonst regelmäßig frage, wo ich eigentlich bin und hin soll, tendieren gen Null.
Kurz vor Romannshorn begleitet mich plötzlich ein Parallelfahrer im rüstigen Rentneralter. Seltsamerweise verstehe ich ihn sofort, denn er spricht norddeutsch. Er käme aus Meckpomm, Ex-DDR, berichtet er tretend. Rübergemacht zum Bodensee hätte er schon 1989 und die alte Heimat seither verschmäht. Nachdem ich ihn, Müritz- und Ostsee-erfahren, auf den neuesten Stand gebracht habe, trennen sich unsere Wege in Romanshorn.

In Arbon glaube ich meinen Augen nicht zu trauen. Ich blicke plötzlich auf schneebedeckte Alpengipfel und auf die Sorte von Alm, die angeblich keine Sünde kennt. Dafür ist es auch hier sündhaft teuer. Ich verzehre für acht Euro einen Hot-Dog. Aber ich werde für den Aufpreis entschädigt, weil ich blitzartig und unvermutet geadelt werde. „Ihr könnt auch Bratwurst bekommen. Was wollt Ihr trinken?“, fragt mich die demütig blickende Kiosk-Betreiberin. Dabei bin ich nur Singular – und fahre ratlos wie einsam weiter.
Während sich mein Blick immer mehr zwischen Alm und Hochgebirge verfängt, taucht vor mir ein weiß-rotes Staatswappen auf, unter dem „Österreich“ steht. Kurz dahinter wandelt ein gelangweilt wirkender Grenzbeamter mit angeleintem Hund. Die Kontrollmaßnahme des Staatsbewachers besteht aus einem müden Lächeln.
Nach der verspurten und vielfach beschilderten Schweiz durchradle ich nun ein Gebiet, in dem sämtliche Wegweiser offenbar zuvor in den Alpen verbaut worden sind.  Dafür vermehren sich meine ratlos gefragten Voralberger inflationär wie wegweisend. Somit erreiche ich irgendwann doch, zufrieden mit mir und der Welt, die Landeshauptstadt Bregenz und dessen vorgelagerten Campingplatz.
Beim Aufbauen des Zelts beginne ich allmählich mit dem Ausschalten der hierfür nicht mehr nötigen Gehirnzellen. Meine ins Vakuum des Innenzelts geworfene Schlafrolle pustet sich eh ganz von allein auf, und ich brauche nur spät das Ventil drehen. Zwischendurch ordere ich per Handy für meine nächste Nacht eine Jugendherberge in Friedrichshafen. Der Osnabrücker liebt es ja, wenn die Planung steht.
Zum Abendessen begebe ich mich in einen Biergarten mit Seeblick. Geografisch am nächsten kommen mir, einige Meter entfernt, zwei sich herzlich liebende Alt-Franzosen in Designerkluft. Film oder Werbeagentur, tippe ich, ohne zu fragen.
Ich verputze meinen Fischsalat-Teller und begebe mich zur Nachtruhe. Vor dem Einschlafen bruzzelt mir mein Gaskocher noch schlecht verrührte Tütensuppe, die ich mit Resthunger im Schlafzelt verspeise. Dass sich die Düfte von Spargelcreme und Mückenöl riechbar vermengen, stört mich nur etwas. Schnell mümmele ich mich in meinen Schlafsack und bin ich tief eingeschlafen.


Donnerstag: Von Bregenz nach Friedrichshafen

Noch vor dem Packen genieße ich die ersten Körnerbrötchen der Reise. Der Rest ist wieder Routine und ich radle nach dem Beladen zügig durch die Landeshauptstadt. Kaum etwas macht mich hier so neugierig, dass ich anhalten müsste. Am Horizont taucht dafür Lindau auf, einst königlich-bayerische Insel, bewacht von einem gemeißelten Marmorlöwen.
Ich gönne mir den seltenen Luxus des Schiebens, bis ich vor einem Biergarten süchtig machende Düfte schnuppere. Jawohl, das ist es. Händerl, auf Norddeutsch Grillhähnchen! Ich lasse es mir schmecken und empfinde, was nicht häufig passiert, tiefe Sympathie für das Bayern-Land.

Gestärkt und auch, weil die angefutterten Kalorien ja auch wieder in die Pedalstärke investiert werden sollen, geht es nach einem ausgedehnten Rundgang durchs Städtchen weiter. Irgendwann liegt Bayern hinter mir, und das Schwäbische prägt wieder Gesehenes und Gehörtes. Auf und ab, Berg und Tal, Seeweg oder Nebenroute: Friedrichshafen ist schließlich erreicht, die Jugendherberge selbst für gewohnte Irrgänger wie mich schnell gefunden.
Es ist noch früh, als ich Zimmer wie Bett bezogen habe. Die Restzeit bis zum abendlichen EM-Spiel Deutschland-Italien soll dem Lückenschluss gelten. Erst das Durchfahren der Strecke Ludwigshafen-Mersburg vollendet die dann restlos umfahrene Seestrecke. Ich sitze also wieder, jetzt zum Glück ohne Gepäck, im Sattel und trete wie gewohnt in die Pedalen.
Die Strecke wird leider eher grenzwertig. Beinahe bis Mersburg, rund 20 km, darf ich im Rasertempo überholende Autos und LKWs bewundern. „Umleitung“ oder „Nebenstrecke“ überwiegen, das Seeufer erblicke ich bis kurz vor Mersburg selten. Dann setzt auch noch Regen ein, der einem richtigen Kerl ja nichts machen darf, aber die Fahrfreude trübt. Außerdem will ich ja zum Spielanpfiff wieder vor Ort in der Jugendherberge sein.

Ich fasse den Beschluss, mit einem Linienschiff ab Mersburg zurückzufahren und sause zum Anlege-Steg. In der Tat sehe ich ein Schiff, auf dessen Display „Friedrichshafen“ erleuchtet. Es dampft allerdings von dannen. Der mitleidige Schiffer eines anderen Wassergefährts winkt mich zu sich, um mir in ungewohnt erklingendem Berlinerisch einen Tipp zu geben:
„Det Schiff ist wech. Wennse schnell sind, können se dat noch bis Hagnau einholen!“, ruft der Mann mir zu.
Ich fackele nicht lange, drehe um und donnere los. So muss sich Radlegende Rudi Altig bei seinem ersten Etappensieg gefühlt haben. Keiner hält mich auf! Der Schweiß läuft. Unschlagbar! Der Tacho zeigt mehrfach gut 30 km – und schon bald habe ich den langsamen Kutter hinter mir. Am Ende muss ich in Hagnau sogar noch warten und gelangweilt, verzweifelt wie alternativlos der Ansprache eines Verlobungsredners lauschen, der mit seinen Festgästen den Weg zum Steg verbarrikadiert.
Dann geht es doch schneller. Das Boot legt an, ich schiebe zahlend an Bord und genieße die letzten Kilometer See vom Wasser aus – ohne Regen.
In der Jugendherberge ist es mir erlaubt, inmitten pubertierender 13-Jähriger Deutschlands Niederlage gegen den Azzuri-„Angstgegner“ zu erleben. Ich bin weit weniger enttäuscht als die kollektiv traurigen Spätnachfahren meiner Generation und liege später, immer noch im persönlichen Triumphgefühl des souveränen Schiffsbezwingers, in meinem Etagenbett.
Ich schlafe, zufrieden mit mir und der Welt, ein. Während die deutschen Millionenkicker heute schmählich alles in den Sand gesetzt haben, habe ich den Strand nach meinem ersten Land-Wasser-Kampf als stolzer Sieger verlassen.


Freitag: Heißes Finish in Zug und Bahnsteig

Der Abschied aus der Jugendherberge fällt leicht: Es gibt wieder bescheiden mundende Papp-Brötchen. Egal. Dafür funktioniert das Packen schneller als beim Zeltabbau.
Die Zeit bis zur Zugabfahrt nutze ich endlich für ein Kulturereignis: Ich begebe mich in das interessant gestaltete Zeppelin-Museum und erlebe Aufstieg, Glanz und Katastrophen des Kerosin-freien Flugverkehrs. Für mich allerdings möchte ich Katastrophen heute ausschließen.

Das letzte Abenteuer, das auf mich tollkühnen Rad-Reisenden wartet, sind Zug und Bahnhof. Da gilt es, die gewohnten Fragen zu klären: Wo hält der reservierte Waggon? Ist einer für Räder bestimmt? Bekomme ich es zeitnahe hin, eine Trennung von Rad, Gepäck und mir selbst infolge von aufkeimender Hektik zu verhindern?
Leichte Verspätung: Der IC läuft ein. Ich schaffe es tatsächlich, alles, trotz Gedränge und Geschubse, erfolgreich durch die Zugtür zu quetschen. Bevor die Schlange hinter mir anschwillt, assistieren mir fremde, aber hilfreiche Hände. Deshalb gewinne ich die Zeit, mein Vorderrad technisch korrekt auf einen hohen Haken unter die Waggon-Decke zu wuchten. Irgendwann ist alles verstaut, und ich kann auf dem reservierten Sitz mit Muße meine mitgebrachten Geflügelwürstchen verschlingen, den Spiegel lesen und nebenher mit Muße beginnen, diesen Bericht ins Notebook zu hämmern.
Spannung kommt aber wieder auf, als die Verspätungszeit gen Umsteigebahnhof dramatische Formen annimmt. Schaffe ich das noch? Oder darbe ich irgendwann verloren in Köln dahin?
Endlich! Mit allen Plünden ausgestiegen, habe ich gefühlte 90 Sekunden Zeit, Gepäck, Rad und mich selbst auf das Nebengleis zu schaffen. Ein kurzer Blick dokumentiert die brutale Wahrheit: Kein freier Fahrstuhl in Sicht! Also, wie leidvoll gewohnt, das schwere Gesamtgefährt hochwuchten, die Riesentreppe vor mir hinunter schleppen. Unten kurz weiterschieben, dann wieder hochwuchten und ächzend mit allem die nächste Treppe hinauf asten! Oben wieder das Gepäck abbauen, in den gerade noch haltenden Zug bringen, danach das Rad, zum Schluss mich selbst. Uff!
Wieder habe ich es geschafft! Diesmal mit nur zwei Schrammen auf den nackten Hacken und einem einzigen blauen Flecken auf dem Oberarm. Der Schweiß des Edlen durchfeuchtet spürbar mein Läufer-Shirt. Aber ich sacke beruhigt auf den bestellten Sitz und genieße es, weiter auf dem Notebook zu schreiben.

Als die Dämmerung aufzieht, naht der heimische Bahnhof. Das Unvertraute wird wieder vertraut. Selbst Pack- und Ausstiegsrituale laufen plötzlich als urgewöhnlicher, vielleicht sogar ein wenig langweiliger Wiederholungsfilm. Kein Schwäbisch mehr in der Bahnhofshalle, selbst Gemurmel klingt verständlich. Verlockend die Gewissheit, dass es morgen früh keine Papp-Brötchen mehr gibt. Trotzdem schade, dass der Uhrzeiger hoch oben an der Bahnhofswand wieder im gewohnten Takt schlägt.

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