New York – New York
Dienstag, 3. Oktober
Morgens um 9.15 Uhr bimmelt es bei Schulzes. Absprachegemäß fährt Chauffeur Joachim mit seinem Mercedes vor. Heiko fällt der Abschied von der Family zwar ein wenig schwer, doch die Reiselust wächst mit der aufkeimenden Neugier.
Nach einem kurzen Stop im ON-Büro wird Wolfgang in der Uhlhornstraße samt Gepäck zugeladen. Der Redakteur wird gut behandelt – schließlich ist er ungemein sprach- und ortskundig.
Die Ankunft am Amsterdamer Flughafen beginnt mit der Stellplatzsuche, die auf der Nummer P3L2 endet. Nach dem Busfahrt und dem Einchecken beginnt die von Wolfgang bereits warnend angekündigte Wartezeit. Irgendwie schien er mit seiner Empfehlung einer etwas späteren Abreise doch Recht gehabt zu haben. Am frühen Nachmittag startet die Martin-Air-Maschine, wonach sich Wolfgang im Underdog-Abteil einen nachbarlosen Fensterplatz chartert.. Das Osnabrücker Trio war ursprünglich auf drei Mittelplätze gesetzt worden. Und da Alice per Fraktionsorder angewiesen hatte, Heiko müsse in jedem Fall immer in der Mitte bleiben („Erschossen werden immer zuerst die Äußeren. Heiko muß in die Mitte, denn den brauchen wir noch, bei den anderen bin ich mir da nicht so sicher…“), muß der Geschäftsführer mit der geringsten Sitzfläche Vorlieb nehmen.
Der Flug dauert und dauert. Am Ende sind es gute acht Stunden. Dramaturgische Höhepunkte sind die von Stuardessen gereichten Nahrungsmitteln, Monitoranzeigen zu Flugzeugdaten und Reiseverläufen. Lediglich für Heiko, der sich erst zum zweiten Mal in die Lüfte erhoben hat, ist die monotone Sache etwas spannender. Begrenzte Intellektuelle Kapazitäten werden beim Ausfüllen von Zollerklärung und Einreisevisums-Karte abverlangt. Glaubhaft versichern die Osnabrücker, daß sie nicht gedenken werden, sich dauerhaft in New York niederzulassen und dort zu arbeiten. Nicht einmal ein Verbrechen wollen Redakteur, Geschäftsführer und Hilfspfleger begehen.
Dank Wofgangs Offerte darf Heiko den Zielanflug ab Maine vom Fenster aus beobachten. Mit leuchtenden Augen beobachtet er das Schwinden der Wolken und die braun eingefärbten Gebirgsschluchten von Maine, und aus den für schlappe 6 $ erstandenen Mehrweg-Kopfhörern säuselt John Denver von der Schönheit Amerikas. So traumhaft hatte sich Heiko die erste Begegnung mit dem unbekannten Kontinent auch insgeheim vorgestellt.
Schließlich erstetzt Gestein die Landschaft. Erste New Yorker Luftperspektiven sind zwar noch nicht Manhatten, aber unverkennbar die Zielstadt.
Ankunfts-Ortszeit ist kurz nach 18 Uhr: Abschnallen, Schlangebilden, raus aus dem Flieger. Der kritische Blick diverser, zumeist schwarzer Paßbeamter wird überstanden, der Kuß des – irgendwann gegen 19 Uhr betretenen – Bodens wird allerdings dem nachreisenden Papst überlassen, der schon des öfteren – Osnabrück, Gelsenkirchen und jetzt New York – auf Heikos Spuren gewandelt ist.
Bemerkenswerter als der US-Boden ist zunächst die Luft. Schon das Temperatur-Info im Flieger hatte angekündigt, was erste Schweißperlen dokumentieren: eine Reise vom Frühherbst ins summer-feeling.
Kurzes Warten auf den Bus der Autoverleih-Firma Budget, Einstieg, Ausstieg – und der Hilfsknüddel-Redakteur erledigt souverän die Ausleih-Formalia für unseren pinkfarbenen Chrysler, bei dem Heiko die Haltegurte Probleme bereiten. Routiniert und zielgerichtet drückt der Journalist in die Eisen.
Erste Eindrücke von Newark, von dem aus es via Freeway gen New York geht. Auffällig, wenn auch aus zahllosen Filmen bekannt, wirken am Straßenrand riesige Reklametafeln.
Das Auto-Feeling ist zwar irgendwie vertraut, aber auch ein wenig anders: fremdartige Schilder und Abfahrten, achtspurige Schnellstraßen. Gut, daß der Redakteur sich in dem Gewirr einigermaßen auskennt. Und der SPD-Autobanner wundert sich, daß es im Verkehrschaos doch irgendwie zügig vorangeht. Ein kalter Schauer durchzieht ihn, nachdem er im Halbschlaf Wolfgangs angedrohte ON-Recherchen vor sich sieht, nach denen die New Yorker Parkuhren weit billigeres Halten erlauben als die in Osnabrück. Der Geschäftsführer überlegt schon Strategien, wie daheim auf solche Enthüllungen reagiert wird. Motto: Dann isses eben aus mit nichtöffentlichen Infos, basta!
Die Absteige-Suche findet wiederum ein recht schnelles Ende. Im YMCA-Gebäude in der 63. Straße West – direkt an der Ecke links-unten am Central Park – wird Quartier genommen. Der Hilfspfleger darf in ein Einzelzimmer. Redakteur und Geschäftsführer verteilen sich auf das Unten und Oben eines bescheiden aussehenden Etagenbetts, das sich die wenigen Quadratmeter des Zimmerchens mit einem Tisch und einem Stuhl teilt. Dennoch ist die gesamte Osnabrücker Delegation zufrieden: Ein Schlafplatz ist gefunden, und der TV unter der Decke flimmert erste farbige Studien über den American Way, wobei ein heißer Wettbewerb zwischen Programm- und Werbeminuten zu herrschen scheint. Jedoch gibt die festgeschraubte Glotze zum Entsetzen der infohungrigen „Visiter“ schon nach kurzer Zeit den Geist auf. Der hurtig herbeieilende „Engeneer“ reduziert seine Fachkenntnis auf das Rütteln an den Anschlußkabeln und bietet den davon sprachlosen Touris zwei alternative Zimmerschlüssel, woraus ein erster Umzug folgt.
Für das Spätabendprogramm hat Wolfgang sofort den ersten Szene-Tip: Eine Autofahrt führt durch die beleuchteten City-Straßen, dann über den Broadway, um in Soho (South of Houston) das szenetypische Ludlov-Cafe’ zu inspizieren. Irgendwie eine Mischung aus Kreuzberg und Unicum mit multikultureller Umgebung. Zur Livemusik verspeist Heiko Hähnchenbrust mit Kartoffelbrei, Wolfgang und Joachim machen sich über einige Chicken-Wings her, auf die der breikauende Heiko wiederum einige neidische Blicke wirft. Den musikalischen Backround bilden bisher unentdeckte Talente, für deren Auskommen nebenher im Bierglas gesammelt wird. Nach dem letzten Schluck US-Bier, das sich die Gäste aus einem Glaskrug teilen, geht es heimwärts in die Schlafkammern der Absteige, für die zusammen pro Nacht rund 105 Dollar zu entrichten sind. Unterwegs verarbeiten wir noch das Bild einiger Nichtseßhafter und das eines Ladenbesitzers, der direkt und für alle sichtbar hinter seinem Schaufenster nächtigt. Good Night, New York!
Mittwoch, 4. Oktober
Während Hilfspfleger und Redakteur sich noch darauf konzentrieren, die Urlaubsstadt träumerisch vorzuerleben, erfüllt sich der Geschäftsführer kurz nach halb sieben einen uralten Jogger-Traum. Auf seinen Nike-Schuhen erlebt Heiko das aufwachende New York im Central-Park. Der Ursprungsplan, mitten in den grünen Park hineinzulaufen, wird allerdings schnell durch den Herdentrieb ersetzt, aufgrund dessen sich der Gastläufer einer volkslaufverdächtigen Masse an Mitrunnern anschließt und mit diesen durch die Außenstraße des Parks hechelt. Fear of crime? Heiko doesn’t know. Nach rund 20 Minuten ist ein See erreicht, der sich Tage später als das berühmte „Reservoir“ entpuppt, welches schon Marathon-Man Dustin Hoffmann auf der Leinwand umkurvte. Die Mitjogger werden vom wahrscheinlich einzigen Läufer aus der Dodesheide mit Staunen beobachtet: viele junge Frauen, zumeist mit Walkman, zumeist weiße Männer aller Altersgruppen, einige langsamere Mitmenschen walken.
Zurück im Zimmer und aus der anschließenden, bescheiden gesäuberten Dusche zieht Heiko Kaffee und Käseomelett der Beobachtung eines tief schlummernden Redakteurs vor. Auch vom Hilfspfleger ist noch nichts zu sehen, so daß sich der letzte Osnabrücker Arbeitersportler mitsamt Dumont-New-York-Führer zum erste Breakfast in die Frühstücksraum verzieht.
Kurz vor High Noon kommt es dann zum Aufbruch. Auf uns wartet eine mehrstündige Erwanderung markanter Downtown-Ecken: Chinatown, Little Italy, Greenich Village mit Kaffeepause, erster Shopping-Rausch, der den Running Hero gleich zum Kauf zweier Jeans animiert. Kulturelles Highlight sind echte Penis-Nudeln, für die mit der Kochanleitung „heat them and they grow“ geworben wird. Zurück im YMCA, versuchen sich Wolfgang und Heiko einmal mehr mitsamt Engeneer an der Zimmerglotze – doch das Fernsehglück währt nur kurz, die YMCA-Engineers scheinen andere Schwerpunkte zu haben.
Abends packt Wolfgang das Baseball-Fieber, und er verdrückt sich zur letzten Yankee-Party in die Bronx. Playoff-Spiel gegen Seattle.
In Unkenntnis der Regeln und des atemberaubenden Flairs – das Publikum verabschiedet das Home-Team nach Mitternacht mit standing ovations und New York – New York – Chören – ziehen Heiko und Joachim ein Thai-Dinner vor. Echt lecker und – selbst für Heiko – ungemein viel. Wenn auch das US-amerikanische System der Bezahlung der Angestellten im Service dazu führt, daß einem nach Verschlingen des letzten Bissens sofort der Teller unter der Nase weggezogen wird – was dem Hilfspfleger unangenehm aufstößt – zumal 30 Sekunden später bereits die Rechnung auf dem Tisch liegt. Time is money und nur ein hungriger Gast bringt Umsatz…
Am späteren Abend haben die beiden dann ein unvergeßliches, epochales Kino-Erlebnis. Im Sony-Theater gibts „The Wings of Courage“, ein 3-D-Film über einen 20er-Jahre Piloten, der zunächst irgendwelche vereisten Andenberge durchfliegt und nach dem obligatorischen Absturz im Kino herumzukreuchen scheint. Echt geil. Die 3-D-Projektion und spezielle Akkustikelemente via Kopfhörer lassen nur noch Geruch und Kältegefühl vermissen – so hautnahe echt ist die Riesenleinwand-Attraktion. Heiko greift zuweilen vergeblich nach irgendwelchen Gegenständen, doch auch dem verzweifelt umherkrabbelnden Pilot kann er trotz greifbar nahe scheinender Distanz nicht helfen. Doch am Ende wird der natürlich happy-end-mäßig gerettet.
Auf dem Heimweg philosophieren die frischproduzierten Medienexperten über die zukünftige Kinowelt. Ergebnis des Fachgesprächs: Lust auf mehr, auch ein wenig Besorgnis über die Projektion einer Traumwelt, die attraktiver als die Wirklichkeit gemacht werden kann. Good night, young cineasts.
Donnerstag, 5. Oktober
Obwohl der YMCA-Kraftraum tags zuvor zum Treff- und Schwitzpunkt auserkoren worden war, ist am frühen Morgen weder vom Redakteur noch vom Hilfspfleger etwas in dieser Hinsicht zu vernehmen. Beide verpassen so auch Heikos Begegnung mit einer Frau, die sich für ihre Parkwanderung einen aufgeblasenen Mann mit vibrierendem Kuß-Mund unter den Arm geklemmt hat.
Nach seinen mittlerweile üblichen Runden im Central-Park trifft der zurückgekehrte Geschäftsführer auf tief schlafende Mitfahrende, worauf auch der letzte Versuch gemeinsamer Körperertüchtigung kläglich scheitert. Allerdings läßt sich der Newspaper-Man wenigstens auf ein Besichtigungsdate ein.
Der Tag hatte nur für den – nunmehr schon erfahrenen – Central-Park-Läufer trocken begonnen. Doch nach Heikos second Becher coffee plästert es. Umso schneller fällt die Entscheidung zugunsten eines Museumstages mit paralleler Stadterkundung. Das Kunsterlebnis wird ebenso reich wie vielfältig. Am Guggenheim-Museum ist zunächst „geschlossene Gesellschaft“ angesagt. Nur die eingeladene Weltpresse darf eine Claes-Oldenburg-Austellung begutachten. Doch der Redakteur kennt weder Respekt noch Angst: Selbstbewußtes Vorzeigen der – in New York offensichtlich einschlägig bekannten – ON-Visitenkarte, kurzer Hinweis auf zwei mitgebrachte Ressort-Kollegen, und Osnabrück nimmt am Medienereignis teil. Vor allem Heiko freut sich über kostenlosen Kuchen und ständig refillbarem Kaffee. Die beiden anderen Kunstinteressierten müssen ihn dagegen zuweilen daran erinnern, daß der Guggenheim-Aufenthalt nicht ganz so lange zu dauern braucht wie die Erstellung der dort demonstrierten Malerei- und Plastikvielfalt.
Während der sozialdemokratische Kulturbeauftragte noch im Auto gedankenverloren über die Impressionisten, Expressionisten, Kubisten und Pop-Artisten nachsinnt und Joachim ein weiteres Mal vergeblich nach Streetworkern späht, hält der international renommierte Redakteur schon vor dem Whitney-Museum. Hinein geht es zu einer Edward-Hopper-Ausstellung, zu der ein Riesenandrang herrscht. Hopper vermittelt nicht nur handwerklich perfekte Malerei, sondern einen auch für Touristen nachvollziebaren Einblick in die US-World: anonyme, stets kommunikationslos postierte, anonyme oder rollenverhaftete Personen, Einsamkeit und Pessimismus. Auch der Leiter der Lehrküche im Haus der Jugend ist restlos begeistert.
Eine junge Schwarze macht den zarten Versuch, mit dem Hilfspfleger ihre Impressions auszutauschen. Doch das vielversprechende Communikations-Project scheitert am Mini-Wortschatz des OS-Exports. Später im Auto heitern sich Joachims traurige Augen erst dann ein wenig auf, nachdem ihm Heiko für das nächste Mal die Überlassung seines mitgebrachten „Mindestwortschatzes“ angeboten hat.
Mittagessen ist bei „Kats“, einem legendären New Yorker Futter-Treff, Deli genannt, in dem Heiko sich mit tierischer Salami versündigt, die wie Bierwurst schmeckt und – 20 cm übereinandergestapelt und natürlich koscher – zwischen zwei Brotscheiben hinausquillt. Kompensiert wird der Fleischschock durch das originelle Innere des Speisesaals, in der die Aufforderung „Send a salami to your boy in the army“ unter der Decke hängt und dereinst Szenen für den Kultfilm „Harry und Sally“ mitsamt der berühmtgewordenen Orgasmus-Demonstration gedreht wurden.
Am frühen Abend einige Autostudien von der Innenstadt, wobei besonders die 5th Avenue an Bombastität kaum zu überbieten ist. Danach ist – es ist schon ein wenig dunkel – das Museum for Modern Art angesagt, das – neben einer Reise durch die allgemeine junge Kunstgeschichte – mit einer Piet-Mondrian-Ausstellung aufwartet. Eine imposante Entwicklungsstudie über einen niederländischen Maler, der sich vom Expressionisten allmählich zu einem abstrahierenden „Experimenteur“ für Linien und Farbflächen entwickelt. Nur Joachim schaut ratlos drein. Selbst die – mit leuchtenden Augen vorgetragenen – Hinweise von Heiko, bei Mondrian werde bildnerisch so etwas wie Rhytmus ausgedrückt, tröstet den Hilfspfleger nicht, der sich lieber auf den akkustischen Rhytmus irgendwelcher Rockbands konzentriert.
Am späteren Abend studiert Joachim örtliche promillehaltigen Kommunikationszusammenhänge – gegen den Widerstand des Regens, der mit seiner wolkenbruchartig hinabstürzenden Feuchtmasse selbst die schwarzen Stiefel des Hilfspflegers unter Wasser setzt, während sich Journalist und Parteisekretär in „Usual Suspects“ begeben, einen recht brutalen Kinofilm in Pulp-Fiction-Manier, der ab Januar 96 in Germany startet, begeben. Bei Papaya-Saft und Hotdogs gelingt es Heiko anschließend, sein Understanding zahlreicher Filminhalte zu vervollständigen.
Nachdem Heiko endgültig erfahren hat, daß er schon zweimal an Dustin Hoffmanns Reservoirs-See gerannt ist, stürzt er sich gleich wieder in gewohnter Frühe – kurz vor 7 Uhr – hinaus.
Das Frühstück wird nach einer kurzen Stadttour im Empire-Diner, einem nahezu typischen Thekenimbiß mit blankgebohnerter Theke, eingenommen. Heiko versteht die Welt nicht mehr, nachdem er auf seine gewünschte Eßkombination von Eieromlette, Kaffee und Vanilleshake fragende Blicke erntet.
Nach der Abgeltung mit den obligatorischen Dollarscheinen ist für Joachim und Heiko erstmals Country-time angesagt, denn der Indian Summer ruft. Wolfgang kutschiert die Delegation über Westshore-Drive und Bronx, und ruckzuck wird mit Conneticut nach NY-State sicher der zweite US-Staat durchfahren.
Allmählich beginnt das frühherbstliche Landschaftsfarbenspiel in Gestalt gelb-roter Blätter zu grüßen – wenngleich das spätsommerliche Alt-Grün noch eindeutig überwiegt. Helle Farbtupfer in der Landschaft bieten die zumeist weißgestrichenen Holzhäuser, die uns von nun an am Straßenrand begleiten.
Der Redakteur doziert einmal mehr von den weltumspannenden Breitengraden, nach denen Washington in der Höhe Siziliens, New York in der Neapels, Boston in der von Rom liegt. Während Heiko aus dem Staunen nicht mehr herauskommt, killt der Hilfspfleger jede romantische Regung, indem er feststellt, er hätte den Indian Summer schon recht oft in Bad Eilsen gesehen. So killt man feeling.
Unterwegs verteilt Heiko trotzdem und trotzig seine entliehenen Reiseführer aus dem unerschöpflichen Fundus seines HBV-Leinensacks.
Neuengland hat auch ein New-London, wo wir die erste Zwischenstation mit Coffee, Shrimps, Kakao und Eis garnieren. Joachims Fotos halten denkwürdige Momente einer Uferidylle mit Sitzecke, Segelboothafen und nicht ganz so schönem Fabrik-Hintergrund fest.
Die nächsten Kilometer führen durch Rest-Conneticut, Rhode-Island und Massachussets, wo uns das vereinbarte Ziel „Cap Cod“ – eine Halbinsel mit ihrer Hauptstadt Province-Town erwartet. Bemerkenswert ist die Fahrt über monströse Kanal- oder Flußbrücken, die einen weiten Blick ins Land gewähren. Im Dunkeln finden wir ein nettes Motel. Das Dreierzimmer verspricht vom ersten Stock aus einen netten Blick aufs Meer. Heiko verknotet zunächst seine mitgebrachten nassen Laufklamotten auf einer Holzveranda, wo sie im kalten Seewind eifrig flattern.
Nach der durch Fernsehbilder angereicherten Relaxpause begeben wir uns sodann in die City von Province-Town. Der „bunte Szene-Treffpunkt“ (Reiseführer) entpuppt sich als Gay-Hochburg, und so findet sich neben typischen Touri-Angeboten eine bemerkenswerte Schwulen-, Lesben- und Tuntenszene ein. Das leibliche Wohl wird bei einem Mexikaner befriedigt, dem offensichtlich nicht nur am „Tip“ gelegen ist, weswegen sich in der Delegation die Befürchtung breitmacht, ob man auch genügend Mittel gegen männlichen Anmache aufbringen kann – wobei Heiko allerdings am meisten mit seinem eishaltigen und schneeweiz „frozen Margaritta“ zu kämpfen hat.
Nach der Heimkehr ins Motel werden Hilfspfleger und Geschäftsführer anhand von Fernsehbildern weiter in Sachen Baseball geschult, nachdem Heiko sich durch Hinweis auf seine Länge ein Doppelbett gesichert hat. Hilfspfleger und Newspaper-Man kommen sich derweil in Parallellage näher und gewöhnen sich daran.
Des Nachts dürfen Joachim und Heiko – getrennt voneinander – die ersten sinnlichen Erfahrungen mit Wolfgangs – rhytmisch vorgetragenen – Sägewerksgeräuschen machen, und vor allem der Hilfspfleger durchlebt eine recht harte Nacht.
Tief beeindruckt von den Redakteurslauten ist auch Heiko, den am frühen Morgen wirklich nichts mehr davon abhalten kann, über Strand und Strandstraßen durch P-Town und zurück zu rennen. Mitgenommen werden kulturelle Highlights wie eine Pilgrims-Father-Tafel und ein im altitalienischen Stil errichteter Campanile.
Am Motel-Strand stemmt der Runner noch einmal kraftvoll ein abgelegtes Gewicht, schüttet Coffee in sich hinein und wartet geduldig auf die wachdämmernden Landsleute. Nach dem Packen wird gezahlt und per Verbrennungsmaschine in die City gebrummt.
Frühstück – Heiko verspeist erstmals landesübliche Weizenpfannkuchen – und Shopping finden leider im Regen inmitten von Rentnern und Schwulen statt. Das Wetter ist so schlecht, daß es sich zu aller Leidwesen nicht lohnt, im Hafen eines der „Whale-Watch-Boats“ zu besteigen. Insbesondere der in Schulzeiten begeisterte Fauna-Fan Joachim ist tief enttäuscht. Zu reduzierten Preisen werden so manche Textilien erstanden. Heiko erfreut sich mäßig an seiner neuen, vor Regen schützenden lila Baseballmütze mit der Aufschrift „Cape Cod“. Doch nun ab in den Pinki-Chrysler und auf in Richtung Boston!
Zuvor schütteln Hilfspfleger und Journalist ausdauernd mit dem Kopf, als Heiko auf dem Wege – der legendäre Ort heißt Plymouth – die dort vor Anker liegende „Mayflower II“ besichtigen möchte. Mit strahlendem Blick durchstreift der Altschiff- und Historienfan die Schiffsplanken inmitten anderer Touristen und studiert das nachgestellte Leben an Bord. Er kennt sich sehr gut aus, denn die Mayflower hat er – lange vor seiner Juso-Zeit – höchstpersönlich als Airfix-Bausatz zusammengeleimt. Nach der Constitution, die in Boston vor Anker liegt und dem Ex-Bastler leider entgehen wird.
Nun denn: Das historische Vorgängerschiff der Mayflower baut dennoch auf, denn es beherbergte dereinst die Pilgrims Fathers und … Näheres ist einem Sonderband mit der Auflage eines Exemplares zu entnehmen, mit dem der Geschäftsführer höflicherweise außer sich selbst niemanden belästigen will. Die Begeisterung hält sich zu diesem Thema nämlich offenkundig in Grenzen. Auch deshalb verleiten die gähnenden Blicke von Wolfgang und Joachim alsbald zur Weiterfahrt.
Boston, die Hauptstadt von Massachussets, erscheint schon auf den zweiten Blick sehr anders als New York. Roter Backsteinbau, viele begrünte Straßen mit niedrigstockigen Bauten und altenglische Häuser atmen einen guten Touch Europa, was sich durch imponierend viele und vor allem äußerst belebte Fußgängerzonen bestätigt.
Während es den Redakteur sofort zu einem Open-Air-Festival in den Stadtpark zieht, durchstreifen Hilfspfleger und Geschäftsführer die zwar regnerischen, dennoch absolut belebten Fußgängerstraßen. Der zuweilen hungrige Heiko ordert gleich zu Beginn eine Handpizza, wobei er ein paar überaus nette, mit flirtendem Augenaufschlag hingesäuselte Sätze von dem schwarzen Mann im Service hört, der anscheinend Heikos Cape-Cod-Mütze kennt und schätzt.
Der Geschäftsführer kompensiert diese Kommunikation anschließend mit einem frozen Joghurt in der Markthalle. Spätestens danach wächst bei Hilfspfleger und Geschäftsführer die Sehnsucht nach dem Journalisten, und sie brechen hurtig gen Stadtpark auf.
Dort singt Bruce Hornsby vor einem begeisterten Publikum.
Heiko hechelt inmitten der Klänge zu einem Baum und entreißt diesem ein Ahornblatt mit Indian-Summer-Farben, welches der Spezialdemokrat fortan in den Seiten eines Reiseführers plattdrücken läßt. Endlich besitzt die Literatur einen tiefen Sinn.
Ein kurzes Pallaver nach dem Concert endet mit der gemeinsamen Zielsetzung, noch am Abend gen New York zurückzufahren und auf dem Wege dorthin in einem Motel zu nächtigen. Während der Mieselregen auf die Autofenster plätschert und sich jedermann ein wenig selbstkritisch fragt, ob sich die Bostontour in dieser Form gelohnt hat, entladen sich erste Spannungen in einer verkehrspolitischen Diskussion, bei der Heiko für hohe Benzinpreise votiert, um sich irgendwann aus der – von Wolfgang und Joachim zuweilen sehr geliebten – Autogesellschaft zu verabschieden. Doch der Disput verläuft zusehends friedlicher, da gemeinsam nach einer danach auch wahrgenommenen Imbißgelegenheit (Pizza) in der Provinz, einer für den Redakteur lebensnotwendigen Zeitung sowie nach Schildern für ein Motel gespäht wird. Letzteres findet die Delegation dann auch spätabends in der Hauptstadt von Conneticut, im weitläufigen Hartfield. Der Preis für das ansprechende Zimmer inclusive TV mit – nicht ganz jugendfreiem – „Pfleger-Kanal“ ist schlappe fünfzig Dollar.
Die ersten Teil der Nacht verbringt der Redakteur im Kino, der Pfleger mit Köstlichkeiten aus dem Liquor Store und der Geschäftsführer von Beginn an schlafend.
Auch diesmal begrenzt Heiko seine Schnarch-Lauschzeit, die Joachim durch giftgrüne Ohrstopsel abmildert. Der Geschäftsführer schlendert die erste Stunde durch den Vorort und verspeist in der nächsten ein chinesisches Käseomlette mitsamt einiger refilled Coffees. Anschließend verkriecht er sich ins Auto, um in der Literaturtasche nach Ideen für weitere Stationen zu wühlen. Nebenbei vertieft sich der frühere Plastik-Reeder sehnsüchtig in ein am Vortage erstandenes Foto-Buch über die Mayflower.
Die gemeinsame Folgemahlzeit ist einige Viertelstündchen später ein anderes Schnellrestaurant, in dem Heiko – für ihn recht unüblich – dankend eine klebrige Gummitorte liegenläßt.
New York empfängt die Anreisenden nach mehrstündiger Tour im Outfit von Bronx und Haarlem. In Manhatten hagelt es zunächst Hotel-Absagen, worunter selbst der YMCA fällt. Gegen 15 Uhr ist endlich das Hotel Belvedere gefunden, das der Delegation für die verbliebene Zeit pro Nacht 105 Dollar kostet.
Während Wolfgang auf der Jersey-Seite Shopping macht, zieht es Heiko und Joachim zur Brooklyn-Bridge, die einen imposanten Eindruck vermittelt. Kurze Märsche durch die Wallstreet, am Clinton Castle, dem Korea-Mahnmal und den Touri-Schiffsanlegestellen vermitteln den beiden einen ersten Eindruck von Manhattens Küste. Der Redakteur sucht derweil nach Textilien und murmelt ständig von Wiedergutmachungen.
Abends wird Nippon-Essen bei einem Japan-Imbiß eingenommen, danach ein kurzes Bier in einem typischen Pub- und ab gehts ins Zigfeld, ein gigantisches altes Kino mit viel Plüsch und Platz für 1500 Besucher. Heiko ordert mal wieder Kaffee und Eis, der Redakteur lehnt das im Gang feilgebotene Popcorn ab. Joachim entzieht sich gänzlich allen Konsumgelüsten und genießt den Film „Strange Days“ – eine Zukunftsvision 1999 – pur.
Wolfgang kommt nach dem Abspann und einem Kneipenbesuch die zündende Idee für ein ganz spezielles Nachtprogramm: Um zwei Uhr dreißig begibt sich die Truppe auf die Staten-Island-Fähre, um New York einmal vom Wasser aus bei Nacht zu sehen. Altvertraute Film- oder Postkartenmotive werden von Heiko und Joachim erstmals sinnlich und recht nachhaltig erfahren. Der Journalist lehnt sich derweil selbstzufrieden an die Schiffswand, hat er den anderen Provinzlern doch wieder einmal etwas mehr von der großen weiten Welt gezeigt.
Um vier Uhr dreißig kehren die Eindrucksreichen ohne Wolfgang ins Hotel zurück, um sich noch eine Wele dem hochspannenden TV-Vortrag des britischen Labour-Chefs Tony Blair zu widmen, den Heiko nervig nichtssagend, Joachim schlicht langweilig empfindet. Erstaunlicherweise schläft der Geschäftsführer, dem sonst selbst der aktionsreiche Pfleger-Kanal irgendwann die Augen zudrückte, nicht ein.
Erst ganz furchtbar spät – und für niemanden so recht bemerkbar – kehrt der Redakteur aus dem Nachtleben zurück, plumpst ins Bett und stellt sein Sägewerk an.
Heiko startet seinen lang ersehnten Central-Park-Morgenlauf mit einem Run über den Broadway, was inmitten einer Straßenszene mit bunten Typen, Rollerscatern und Mountainbikern nichts Auffälliges besitzt.
Im Hotel klärt der – sich jetzt endgültig topfit fühlende – Roadrunner mit den noch halbschlafenden Zimmergenossen ab, daß die nächsten Stunden bis rund 17 Uhr den Einzelinteressen gewidmet sein soll.
Bewaffnet mit seinem innig geliebten Reiseführer, begibt sich der erlebnishungrige Geschäftsführer zur Südspitze Manhattens. Die U-Bahn-Fahrt hat etwas leicht Abenteuerliches, denn Heiko verpaßt eine Aussteigeaufforderung des Traindrivers, so daß er nach einigen Haltepausen nicht direkt am Ufer, sondern an der Rector-Street aussteigen muß. Macht ja nix.
Interessant wird ein kurzes Schlendern über eine multikulturelle Ansammlung diverser Eßstände, wo der durch Wasserverlust Durstige zum Genuß eines Papaja-Safts animiert wird. Nach der Einnahme von Pizza und refilled Coffee geht es zum Kartenkauf nach Clinton Castle, wo die Legitimation zur Schiffahrt zu Miß Liberty und Ellis Island erworben wird. Am Fuße der Freiheitsstatue erwirbt Heiko Postkarten und drei Schneekugeln mitsamt einer von darin befindlichen Miß Liberty. Den Gang ins Innere der Metalldame überläßt er anderen und begnügt sich schlürfend mit einem Orange Juice.
Hochinteressant wird Ellis Island. Der wissenshungrige Geschichtsfan ist kaum zu bremsen, als er das dort eingerichtete Einwanderungsmuseum durchstreift. Erblickt werden Einheimische, die an Computern nach ihren Vorfahren suchen, betrachtet werden Riesenstapel von Koffern und Kisten internationaler Einwanderergruppen. Vielsagend sind zahllose Dokumente und Ausstellungsstücke. Beeindruckend fallen dem grundsätzlich US-kritischen Zeitgenossen recht viele selbstkritische Ausstellungs-Elemente auf, die von dunklen Seiten der Migration erzählen.
Leider läuft die Uhr, und es warten Schiff und U-Bahn.
Zurück im Hotel wird zunächst gemeinsam relaxt und die Essenseinnahme in einem afghanischen Restaurant vereinbart. Der Besuch einer bekannten Rock-Kneipe, dem Hard-Rock-Cafe, beendet für Heiko den letzten Abend. Kurz vor dem Hotelgang werden noch etliche Bites von ausgestellten Sänger-Jacken oder von an der Wand baumelnden Guitars auf die Festplatte des PC-Freundes gezogen.
Hilfspfleger und Redakteur suchen danach noch ein paar finstere Ecken mit guten Kneipen auf, wobei sie beim Besuch des Ladens mit der „tollsten Musikbox“ (Jukebox) der Stadt einer Ausweiskontrolle unterzogen werden. Eigentümlicherweise wirken beide um drei Uhr morgens wohl doch jünger als 25 Jahre.
Dienstag, 10. Oktober
Nach dem unterschiedlich schnellen Aufstehen stehen letzte Einkäufe an, um noch eine Handvoll Dollar für sich und die Lieben daheim auszugeben. Ein letztes Mal ruft die Wiedergutmachung.
Die Touris verlassen New York bei untergehender Sonne. Am Nachmittag bekommt Budget das Leih-Auto zurück, den Ossis bleibt nichts als Gepäck und eine Überzahl an Eindrücken.
Der jetzt schon gewohnte Check am Flughafen, Gepäckaufgabe, Wartezeit in einer Airport-Kneipe, allerletzte Dollarausgaben.
Kurz nach 18 Uhr sitzt alles im Flieger und startet in eine weitgehend schlaflose Nacht, die am Tage darauf in der mitteleuropäischen Zeit von ungefähr 9 Uhr in Amsterdam endet. Joachim eilt ins Bett, Heiko ins Büro und Wolfgang unter die Dusche.
Good bye, New York, we hope to see you again – soon!