Falken für den Frieden
Die Sozialistische Jugend Deutschlands „Die Falken“ – Kinder- und Jugendverband der Sozialdemokratie – war im jüngeren Osnabrück nur in kurzen Phasen durch einen eigenen Ortsverband vertreten. Dass Falken in früheren Jahrzehnten in der Hasestadt ein starkes Standbein hatten, war seinerzeit vor allem mit einem Namen verbunden: Erwin Förstner.
Förstners geografische Heimat, die ihn zeitlebens prägte, ist der Schwarzwald. Erste Station seines beruflichen Werdegangs war nach der Schulentlassung im Jahre 1924 eine Goldschmiedelehre, die er 1928 erfolgreich abschloss. Zwischendurch verfestigte sich seine künstlerische Ader, denn er besuchte die Pforzheimer Kunstgewerbeschule, wurde Theatermaler und war später in Pforzheim, Stuttgart und Waiblingen als freier Maler und Grafiker tätig.
Bereits als 12jähriger stieß Erwin Förstner zur sozialistischen Bewegung und schloss sich den Pforzheimer Freien Turnern, einem Arbeitersportverein, an, der in gesunder und solidarisch erlebter Freizeitgestaltung, nicht in Militärdrill und Leistungswut, seine Identität suchte. Schon 1924 wurde Förstner in der sozialistischen Kinderfreunde- und Falkenbewegung aktiv und fand dort jene politischen Wurzeln, die ihn bis heute prägen. Er betätigte sich in einer Vielzahl führender Funktionen in der sozialistischen Arbeiterjugend, gründete bis 1929 Falkengruppen in Pforzheim, Waiblingen, Korb und Fellbach. 1931 schließlich avancierte Förstner zum Unterbezirksleiter der Falken in Stuttgart, bei nicht wenigen Ereignissen mit großem Publikum wurde er zu einem vielgefragten Redner. Schon in jungen Jahren verband ihn mit dem späteren SPD-Bildungspolitiker Erhard Schneckenburger, zuweilen auch mit dem späteren SPD-Vorsitzenden und damaligen Vorsitzenden der SAJ auf Reichsebene, Erich Ollenhauer, eine enge Zusammenarbeit.
Erwin Förstner blieb bis zum Ende der Weimarer Zeit ein Aktivposten der dortigen Sozialdemokratie, wirkte gleichermaßen in SPD, Gewerkschaft, Reichsbanner, Naturfreunden und dem heute fast vergessenen sozialistischen Naturheilverein. Liebevoll fotografierte Fotos in reichhaltig bestückten Fotoalben zeugen nicht nur von der Fähigkeit, Alltags-, Reise- und Zeltlageraktivitäten junger Sozialistinnen und Sozialisten dokumentarisch ins Bild zu setzen, sondern auch von einer hohen Qualität der jeweiligen Motivauswahl. Selbst heute überkommt einem das unglaubliche Gefühl, jene vergangene Zeit per Bildbetrachtung ein Stückchen mitzuerleben. Die Lockerheit und Verspieltheit des Alltagslebens in der Arbeiterjugend bilden einen eindrucksvollen Kontrast zu jenen Bildern militärischen Drills und Kadavergehorsams, der üblicherweise aus dieser Zeit überliefert wird.
Für Erwin Förstner war in solche Lebenssituationen stets eine Einheit zwischen politischen Visionen und dem Alltag ersichtlich: Solidarität ist Lernziel und zugleich im Umgang miteinander erlebbar. Für seine hohe ethische Gesinnung sprach nicht zuletzt, dass er sich zu einem vegetarischen Leben entschied.
1933, in jenem Jahre, in dem für zahllose Sozialistinnen und Sozialisten Todesgefahr, Haft oder Flucht angesagt waren, gelangte der Pforzheimer in den Raum Osnabrück, zunächst nach Dissen, später in die Hasestadt selbst, wo er nicht wie seine daheimgebliebenen Genossinnen und Genossen verfolgt wurde. Dass er ansonsten für Leib und Leben hätte fürchten müssen, das bezeugen noch heute alte Briefe, die ihm Freunde seinerzeit schrieben und voll von Erlebnissen der Verfolgung durch die NS-Machthaber sind.
Politische Betätigung war für Erwin Förstner fortan unter Lebensgefahr verboten und er schlug sich durch künstlerische Betätigung durchs Leben. 1937 fasste Förstner beruflich erstmals in fester Position Fuß, nämlich als technischer Angestellter der Osnabrücker Regierung, bei der er – unterbrochen durch Kriegsdienst zwischen 1943 und 1945 – bis 1958 bleiben sollte.
Gleichwohl war es für den engagierten Sozialisten auch in der Nazizeit selbstverständlich, auf privater Ebene Kontakt zu Gleichgesinnten zu halten. Förstner wurde zum Mitautor einer von jungen Sozialdemokraten herausgegebenen und per Eigendruck erstellten Zeitung, die analog zum Falkengruß den Namen „Freundschaft“ trug und mit etwa einem halben Dutzend Nummern intern vertrieben wurde. Um Verfolgung, Haft und letztendlich Tod zu vermeiden, versuchte man sich in äußerlich unpolitischen Darstellungen. Zentral wichtig für damals Eingeweihte wurde es an jenen Stellen, an denen man sich die Feldpostanschriften der zum Militärdienst rekrutierten Genossen mitteilte.
Nach der Befreiung Osnabrücks im April 1945 gehörte Erwin Förstner zu den führenden Persönlichkeiten der Osnabrücker Sozialdemokratie, die sich im Wiederaufbau von Stadt, demokratischen Verwaltungsstrukturen und Partei verdient machten. Schon im Juni wurde er Leiter des Antifa-Kampfbundes Natruper Tor und Eversburg, half mit und gehörte als SPD-Abgeordneter zwischen Juli 1945 und Frühjahr 1946 dem städtischen Bürgerausschuss an. Eine wichtige Rolle fiel ihm auch im Entnazifizierungsausschuss zu, dem er bis Januar 1948 angehörte und der versuchte, die Schergen des NS-Regimes zu enttarnen und zumindest nicht wieder in öffentliche Funktionen hineinzulassen.
Bei der offiziellen Wiedergründungsfeier der SPD in der Steinkaserne konnte Erwin Förstner einmal mehr seine künstlerische Ader mit der politischen verbinden und schuf eine überdimensionale Kohlezeichnung, die „Urvater“ Karl Marx zeigte und die Wand zierte, während der unvergessene Walter Bubert, Widerstandskämpfer, späterer Landrat und Oberkreisdirektor im Landkreis Osnabrück, eine vielbeachtete Gründungsrede hielt. Dass Erwin Förstner sich auch für die Wiedergründung von Gewerkschaft und Jungsozialisten stark machte, war für ihn eine Selbstverständlichkeit.
Dass jedoch sein Hauptherz an der Falkenarbeit hing, war auch in Osnabrück unverkennbar. Schon im September 1945 hatte er eine Gruppe der sozialistischen Kinder- und Jugendorganisation ins Leben gerufen, als Leiter fungierte er mit seinen reichhaltigen Erfahrungen in dieser Arbeit bis 1952. Zahlreiche Osnabrücker SPDler, die später Verantwortung übernahmen, verdankten ihr dazu notwendiges Rüstzeug auch ihren Erfahrungen bei den Falken und damit nicht zuletzt dem Engagement Förstners.
Dass Erwin Förstner in der späteren Nachkriegszeit eher ins zweite Glied der Parteiarbeit zurücktrat, war auch in seinen Leidenschaften als Künstler begründet. Zwischen 1958 und 1962 machte er sich sogar als freier Grafiker und Kunstmaler selbständig, ehe er 1962 wieder bis zum Ende seiner beruflichen Laufbahn in 1973 im öffentlichen Dienst, diesmal beim Vermessungsamt der Stadt, heimisch wurde.
Als aktiver Rentner hat sich Erwin Förstner noch viele Jahre später als bildnerischer Chronist des Stadtgeschehens einen Namen gemacht. Seine 8-mm-Filme über viele Facetten städtischer Ereignisse legen darüber ebenso Zeugnis ab wie liebevoll inszenierte Dia-Vorträge rund um Osnabrück, mit denen er in zahllosen Zusammenkünften ein stets gern gesehener Gast war.
Heute lebt Erwin Förstner gemeinsam mit seiner Frau Frieda in der gemeinsamen Wohnung in der Natruper Straße.