Ottos kalte Reise
Otto hatte immer zu denen gehört, die alles sehr schwierig fanden und es deshalb vorzogen, die einfachsten Lösungen zu suchen. Er hätte zeitlebens nie daran gedacht, aktiv für irgendetwas zu werden. Beruflich war er stets froh, wenn er sich vom Büro nach Hause bewegen konnte. Nur einen Spleen hatte er sich immer erlaubt: Er zahlte auf die hohe Kante, um einst eingefroren zu werden. Einst, wenn es soweit war, wollte er sanft entschlummern, um in der Zukunft wieder aufzuwachen. Irgendwann, wenn das Leben vielleicht noch viel angenehmer war – ohne Arbeit, mit Ruhe, ohne Streß und den Zwang, dauernd über irgendetwas nachdenken zu müssen.
Irgendwann hatte Otto es tatsächlich geschafft. Die Gewißheit, bald in der tiefgekühlten Röhre zu liegen, überdeckte sein Schmerzgefühl und ließ sogar die letzten Tage seines Lebens vergessen. Er dachte an das Danach – und entschlief damit recht sanft.
Otto durchflog eine Traumwelt, die ohne Alpdruck auskam. Freigesetzte Morphine versetzten seinem Hirn einen Trip, aus dem zu erwachen so unschön wurde wie ein rasselnder Wecker.
Als Ottos Ruhe vorbei war, drang so etwas wie Piepsen, Krachen und merkwürdige Stimmen in sein Ohr.
„Sind Sie Nr. 3X 567?“, eine tönerne Stimme beschleunigte Ottos Wachwerden.
„Sind Sie Nr. 3X 567?“, wiederholte sich der Fragende, doch Otto hatte längst damit begonnen, über eine Antwort nachzudenken. Erst dabei bemerkte er, daß er ins Dunkle schaute – oder war er gar blind? Doch zunächst wollte er erstmal antworten:
„Ich kenne diese Nummer nicht, ich bin auch keine Nummer, mein Name ist Otto…“ Er konnte vor Schreck nicht weitersprechen, denn plötzlich befand er sich mitten in einem grellen Scheinwerferlicht, nie gesehene Kameraaugen guckten ihn an – und dann dieser Mensch, der rücklings vor ihm stand und in die gleichen Linsen starrte. Ganz glitzerig sah der Mann aus, auf dem Kopf eine Kapuze, und dann sprach der wieder mit dieser tönernen Stimme:
„Liebe Telekonsumenten, das Experiment, über das wir so viele Jahre gestritten haben, wird jetzt gemacht. Blicken wir zunächst zurück!“
Otto merkte endlich, daß er so etwas wie die Hauptfigur in einer Art Fernsehübertragung war, ja mehr noch, einer Sendung aus der Zukunft, die seine neue Gegenwart war. Nach und nach begriff er, und das fiel ihm nicht einmal schwer, hatte er doch zeitlebens zig Varianten durchgespielt, auf welche Weise er in die Welt der Wachen und Gesunden zurückkehren wollte.
Otto lebte und war aufgetaut, fühlte sich sogar einigermaßen gesund – und sah plötzlich eine Art kleine Kinoleinwand mit Bildern, die ihm vertraut schienen: schöne Wälder und Landschaften, Tiere jedweder Art, Wasser und blauen Himmel. Dann plötzlich schrille Musik und das Kontrastprogramm, das er zu Hause immer so gern abgeschaltet hatte: abgestorbene Bäume, Dürregebiete, ausgehungerte Menschen, Spraydosen, Abfallberge, Atombomben, am Schluß furchtbare kriegsverwüstete Städte.
„Diese Bilder kennen wir,“ fuhr der glitzernde Moderator fort, „und wir zeigen sie gerade unseren Kindern jeden Tag. Wir wissen viel über all das, was die sogenannte Menschheit zuerst zugrundegerichtet und dann ganz vernichtet hat. Wir haben in den filmischen und schriftlichen Hinterlassenschaften sogar einiges an sogenannten Argumenten entschlüsseln können, mit denen all das, was zerstörte, gerechtfertigt wurde. Doch gerade unseren Kindern und den Jungen scheint all das, was nachschaubar ist, nicht mehr verständlich Sogar der Ruf nach `manipulierter Geschichte` wird laut.“
Otto begann damit, seine erste Freude über das Erwachen wie einen Kloß hinunterzuschlucken, denn er begriff, daß seine Welt offenbar ein schreckliches Ende gefunden hatte. Er dachte gerade über die ganzen Menschen nach, die er nie wieder…
„Nr. 3X 567,“ unterbrach ihn erbarmungslos der Kapuzenmann, dessen scharftkantiges Gesicht mit Sonnenbrille ihn jetzt vollends irritierte, „haben Sie diese Bilder eben gesehen?“
„Äh, ja,“stotterte Otto und merkte, daß seine Stimme etwas nuschelnd aus den Mundwinkeln hauchte. Er nahm sich vor, seine Kiefer beim nächsten Mal zusammenzuziehen und kraftvoller zu sprechen – schließlich hatte er offenbar Publikum und da mußte man doch einen guten Eindruck ma …
„Nr. 3X 567, haben auch Sie zu den Leuten gehört, die diesen Irrsinn mitgemacht haben?“
Otto nahm allen Mut zusammen und fragte mit jetzt tatsächlich klarerer Stimme: „Welchen Irrsinn meinen Sie denn, und überhaupt: Ich heiße Otto Trendmann und…“
„Haben Sie vom Waldsterben gewußt?“ Der Mann mit Glitterkapuze tat so, als wenn er Ottos Versuch gar nicht wahrgenommen hätte.
„Waldsterben? Ach ja, das war einmal. Ist aber – glaube ich – zurückgegangen…“
„Liebe Telekonsumenten, hier ist ein sogenannter Mensch, der das bestätigt, was wir Geschichtswissenschaftler Ihnen immer zu erklären versuchen: Die Menschen scherten sich irgendwann gar nicht mehr darum, daß die soganannten Bäume verschwanden, die wir heute in Reproduktionen auf historischen Ausstellungen betrachten können. Und sie machten das sogar, obwohl tagaus, tagein Informationen darüber eingingen, wie es um die Natur stand.“
Der Kapuzenmann wandte sich nun wieder Otto zu, immer noch, ohne ihn ins Auge zu schauen: „Haben Sie auch regelmäßig Eimer von Müll weggeworfen – Plastik, der sich nicht zersetzen konnte, Giftstoffe, die das Grundwasser verschmutzten und …“
Jetzt nahm Otto all seinen Mut zusammen und unterbrach den Kapuzenmann:
„Ich war doch nur ein einfacher Bürger, sowas müssen die Politiker ändern. Ich habe nie etwas gemacht, was verboten war. Ich war immer ein rechtschaffender…“
„Otto Trendmann“, die Stimme des Kapuzenmannes klang schneidend und Otto war gar nicht wohl dabei, zum erstenmal seinen Namen zu hören.
„Daß Sie Leichenteile von Lebewesen gegessen haben, war wohl auch nicht verboten?“
Otto begriff etwas langsam, daß der Kapuzen-Moderator von Fleisch und Wurst sprach, was jetzt sicher sehr lecker und viel angenehmer wäre, als vor diesem eigenartigen Tribunal zu stehen.
Als der Kapuzenmann mit donnernder Stimme von so etwas wie „Kannibalismus“ sprach, kehrten sich Ottos lukullische Phantasien schnell in ein ängstliches Schlucken um.
„Haben Sie Atomkraftwerke gebaut, von denen jeder wußte, wie gefährlich sie waren? Haben Sie Massenvernichtungswaffen produziert, von denen jeder wußte, daß sie die ganze Menschheit um ein Vielfaches vernichten konnten? Haben Sie so etwas wie Automobile gehalten, von denen bekannt war, daß durch sie alljährlich Abertausende von Menschen starben und deren Abgase die Luft verpesteten?“
Otto begriff, daß man gar keine Antwort von ihm erwartete. Verzweifelt nickte er zaghaft mit dem Kopf und sah es mittlerweile als offenkundig sinnlos an, nochmal die Geschichte von der Regierungsverantwortung und dem machtlosen Bürger zu erzählen.
„Und ist es tatsächlich wahr, Herr Trendmann, daß zu Ihrer Zeit etliche Millionen von Menschen verhungerten, während einige soviel besaßen, daß davon hätten Tausende satt werden können?“
„Wer bei uns gut und fleißig arbeitet, verdient eben gutes Geld, und wer arm oder arbeitslos ist, der ist selber …“ Otto merkte gerade wegen der plötzlichen Stille, daß er alles andere als eine geistreiche Antwort gegeben hatte. Er wollte noch etwas anfügen und einräumen, daß natürlich auch viel Ungerechtes da war – und außerdem hatte er, Otto Trendmann, manche mühsam erschuftete Mark für Losaktionen von Wohlfahrtsorganisationen ausgegeben, er hatte sogar einmal Blut für einen freien Arbeitstag und ein schlechtes Frühstück gespendet und …
„Ich komme zum Schlußwort,“ sprach der Kapuzenmann – mit nun plötzlich ruhigerer, aber auch abgewendeter Stimme.
„Die sogenannten Menschen haben wirklich all das Unglaubliche gemacht, das in unseren Geschichtsmedien erfaßt ist und das so oft nicht geglaubt wird. Nr. 3X 567, der sich Trendmann nannte, hat uns eben bestätigt, wie primitiv das Niveau der damals Lebenden war. Um unsere Zivilisation vor Rückfällen in die barbarische Vergangenheit zu schützen, werden wir Nr. 3X 567 nun wieder in die verschlossene Demo-Servation zurückführen, eine spätere – allerhöchstens teilgenetische – -Verwertung werden wir uns dort vorbehalten.“
Otto wollte noch etwas rufen, doch er merkte schnell, daß ihn in der plötzlich auftretenden Stille und absoluten Dunkelheit wohl niemand mehr wahrnehmen konnte. Summen und kalte Luft waren das Letzte, das er hörte und spürte.