Geplatzte Kragen

Leseprobe aus:

Schulze, Heiko: Geplatzte Kragen. Roman über den Aufstand der Osnabrücker Handwerksgesellen im Juli 1801.

Vechta-Langförden, Geest-Verlag 2007


Dienstag, 23. Juni
Im Lichte der Schusterkugel

Die gläserne, wassergefüllte Schusterkugel, die den flackernden Schein der herunterbrennenden Kerze in der engen Werkstatt verteilte, spendete am späten Abend nicht mehr viel Licht. Jakob gab alles. Selbst die schummerige Funzel der Werkstatt reichte aus, um die Schweißperlen auf seinem pausbäckigen Gesicht zum Glitzern zu bringen. Einige dumpfe Schläge mit dem Hammer, und wieder war ein neues Paar edler Reiterstiefel fertig.
„Du ackerst hier wie ein Knecht, dem die Prügelstrafe droht. Über die paar Kröten, die du hier als Geselle verdienst, lacht sich dein Krauter in seiner Meisterstube doch kaputt. Und morgen verkauft er die edlen Treter für weit mehr Kies, als du im ganzen Monat von ihm ausgezahlt bekommst“, raunzte Jakobs Kollege dem Emsigen über dessen rhythmisch wippende Schultern hinweg zu.
Demonstrativ griff der Schimpfende zur aktuellen Ausgabe der Wöchentlichen Osnabrückischen Anzeigen, deren Schriftzüge noch so eben im Licht erkennbar waren. Das Erscheinungsdatum vom 20. Juni 1801 erschien dabei auf geheimnisvolle Weise besonders beleuchtet zu sein. Die dortigen Nachrichten und Kommentare erschienen dem Leser offenkundig wichtiger als die Arbeitsergebnisse seines fleißigen Gesellenbruders.
„Ich mag es nicht, wenn du meinen Herrn Meister Hillmann einen ‚Krauter’ nennst. Das solltest du als Altgeselle aller Schuhmachergesellen dieser Stadt eigentlich wissen, Hildesheimer!“
Jakob warf seinem lesenden Kollegen einen strafenden Blick zu und griff zum Schustermesser, um das Leder für das nächste Paar edlen Schuhwerks zu schneiden. Er vollbrachte dies mit hohem Kraftaufwand, was ihm seine geistige Anspannung ein wenig erleichterte.
„Nun hör doch endlich auf, mit deinem Kneupen herumzuritzen. Der Gestank des Leders und des Pechs in dieser Bude hat wohl dein Gehirn vernebelt, Jakob. Ich hätte jedenfalls keine Lust mehr, bis in die Nacht hinein herumzuhämmern. Irgendwann ist Feierabend.“ Der Hildesheimer schaute weiter in seine Zeitung.
„Ach, du! Sei froh, dass du als Altgeselle nicht so arbeiten musst wie die anderen Gesellen. Du lebst sehr gut von den Talern und Schillingen, die wir für dein Auskommen in die Gesellenlade zahlen.“
Der Angegriffene legte das Blättchen beiseite. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, obwohl er sich massiv angegriffen fühlte: „Hast du zwischen dem pausenlosen Hämmern und Schneiden eigentlich einmal darüber nachgedacht, was es heißt, den ganzen Tag eure Interessen zu vertreten? Das ständige Streiten mit euren Meistern, das ständige Ausfüllen von Papieren. Denk doch mal an die mühselige Vermittlung von Meisterbetrieben, die dich und deinesgleichen aufnehmen!“
Der Hildesheimer kannte die Vorwürfe gegen ihn vor allem von der Meisterseite her. Fast täglich war er zwischen Alt- und Neustadt unterwegs, um nach den immer weniger werdenden Stellen für immer mehr Handwerksbrüder zu suchen, die hier in der Stadt eintrafen. Halbe Nächte verbrachte er mit Korrespondenzen im Interesse der wandernden Schuhmachergesellen. Akribisch rechnete er Unterstützungsgelder für Kranke und Arbeitslose aus der Lade ab. Besonders ärgerten ihn aber die ständigen Auseinandersetzungen mit Gesellen wie Jakob, der aus der Sicht des Altgesellen immer noch nicht gemerkt hatte, wer für und wer gegen ihn war.
Der strebsame Kritiker des Gesellensprechers arbeitete achselzuckend weiter. Er zog das mit dem Kneupen geschnittene Stück Leder zielgenau über den Leisten. Dann gab er sich die Erlaubnis, dem Altgesellen tief und mutig ins Auge zu blicken.
„Gutes Handwerk lebt vom Fleiß“, stellte der Arbeitende fest. „Ein Meister fällt nicht vom Himmel, Hildesheimer! Du wirst immer Altgeselle bleiben und jahraus, jahrein so lange die Gesellenlade verwalten, bis du wirklich alt bist und die schwere Truhe kaum noch tragen kannst.“
Diese Art von Belehrung war für den Angegriffenen der Anlass, eilends seine Lederschürze abzulegen und unwirsch über den Kleiderhaken zu werfen.
„Mir reicht es langsam!“, zischte es zwischen den Haaren seines dichten aschblonden Vollbarts. Die Falten auf der Stirn vertieften sich merklich. „Du tust bald so, als wärest du etwas Besseres. Du bist Geselle wie wir alle.“
Jetzt ließ auch Jakob vom Werkzeug ab und erhob sich ruhig vom Hocker. Er hatte sich schon lange vorgenommen, sein gut gehütetes Geheimnis zum richtigen Zeitpunkt mit Triumph in der Stimme mitzuteilen.
„Ich wollte es schon länger sagen. Darum tue ich es jetzt. Höre jetzt einmal gut zu! Bald, mein Bruder, ist die Gesellenzeit nämlich für mich vorbei! Vorbei das mühselige Tapern von Kaff zu Kaff, das ständige Wandern von Meister zu Meister. Und auch das ständige Vorstellen in den Gesellenherbergen mit diesen oft aufgezwungenen Saufgelagen.“
Der Hildesheimer runzelte seine Stirn in noch tiefere Falten. Die euphorischen Worte seines Gesprächspartners stimmten mit dem Alltag, den auch er täglich erleben musste, keineswegs überein.
„Vorbei die Wanderei?“, fragte er den Prahlenden. „Kaum einer von uns kann das noch schaffen. Gesellen wandern durch die Käffer. Sie sammeln sich an wie überflüssiges Mehl, das unverkauft in den Mühlen vergammelt. Meister werden? Wieso soll dir das gelingen, Jakob? Ausgerechnet dir? Und dass du etwas gegen Bier hast, höre ich das erste Mal.“
Der Angesprochene rammte seine Fäuste in die Hüften und bemühte sich, seine rundliche Nase stolz in die Höhe zu halten: „Weißt du es noch nicht? Ich werde wirklich bald Meister! Alles ist schon abgesprochen, auch mit den Gildemeistern. Ich heirate meine Elisabeth und übernehme die Werkstatt ihres toten Mannes in der Großen Hamkenstraße.“
Der Altgeselle hatte sich schon schnurstracks in Richtung Tür bewegen wollen, um in der Gesellenherberge den Abend im Kreise der Mitgesellen gemütlich zu beenden. Jetzt überkam ihn das Bedürfnis, sich wieder wie zuvor auf den Schusterhocker zu setzen. Ein Anflug von Lächeln durchzog sein Gesicht. „Ich habe so etwas fast geahnt. Du und diese junge Witwe. Die Frau, die ständig so kess umherschaut und ihr rotes Haar immer so gern im Kontrast zu ihrer traurig-schwarzen Witwentracht wallen lässt. Ständig diese leuchtenden Blicke. Und die Blumen, die du in jedem Winkel für sie gepflückt hast. Auf den Wiesen jenseits der Hase wächst schon nichts Buntes mehr. Dann waren da noch die edel verzierten Schuhe mit den hohen Absätzen, die du hier in vielen Nächten zusammengeschustert hast, was hier rund um den Kamp immer zu hören war. Für deine Angebetete, nicht wahr?“
„Aber sicherlich!“, stellte der Bräutigam stolz fest, der die Reaktion des Altgesellen auf seine Neuigkeit sichtbar auskostete. „Seitdem ich diese Frau im Mai kennen gelernt habe, geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Und sie erwidert meine Liebe. Nur offiziell können wir das nicht zeigen.“
Der Hildesheimer nickte verständnisvoll.
„Das Schuhwerk für Elisabeth war mir wie ein Meisterstück. Französische Mode“, ergänzte der Arbeitende. „Das Allerneueste! Du siehst: Jeder kann Meister werden, der sich redlich bemüht.“
Der Hildesheimer musste tief Luft holen. Sein großmütiges Lächeln verschwand. Er wusste nur zu gut, dass die letzte Feststellung seines Gesprächspartners nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun hatte.
„Du sagst: Jeder kann Meister werden, der sich bemüht? Bruder Jakob – schläfst du noch? Du wirst Meister, weil du einer Meisterwitwe den Hof machst und sie heiratest, nicht, weil du ein Meisterstück gefertigt hast.“ Er schüttelte den Kopf und zwang sich dazu, die Aussagen seines Gesprächspartners weniger ernst zu nehmen.
„Ich habe mein Glück gesucht und gefunden. Ich werde Meister sein und ehrsamer Bürger von Osnabrück!“, rief Jakob mit hochglänzenden Augen empört dazwischen und bemühte sich, respekteinflößend zu wirken.
„So viele Witwen toter Meister kann es gar nicht geben, dass ein jeder Wandergeselle mit ihnen eine Ehe schließen kann. Und der Rest der freien Meisterstellen ist allzu oft nur noch für Meistersöhne reserviert“, stellte der Altgeselle ruhig fest.
„Wer fleißig ist, der wird auch was! Handwerk hat goldenen Boden.“ Jakob zeigte sich sprüchekundig. Und seine eigene Lebensperspektive schien die alten Weisheiten für ihn eindrucksvoll zu bestätigen.
Der Hildesheimer legte seine Hand auf die Schulter des Schusternden und lächelte diesen wieder freundlicher an.
„Lieber Jakob, schau dich doch einmal um! Wer schafft es schon, in eine Meisterfamilie einzuheiraten? Wer bringt den ganzen Kies für die Meisterehre auf? Fast keiner. Und du schaffst es wahrscheinlich nur, weil deine Familie viel wohlhabender ist als die meisten Familien unserer Gesellenbrüder.“
Der Altgeselle bemühte sich redlich, ruhig zu bleiben, denn was die beiden besprachen, war fast allabendlicher Gesprächsgegenstand in der Gesellenrunde ihrer gemeinsamen Herberge. Einmal mehr appellierte er an Jakobs Einsicht: „Hast du das vergessen? Den Kies für Gelage, bei denen sich vor allem die Krauter unseres Handwerks nach Meisterprüfungen mästen, kann kaum einer von uns aufbringen. Und das Einkaufsgeld, das der Magistrat verlangt und sich dafür wahrscheinlich selbst den Wams voll schlägt, erst recht nicht!“
Bis zu 200 Taler, so wusste es der Gesellenvertreter aus langjähriger Erfahrung, wollten die Meister mittlerweile für eine abgenommene Prüfung haben. Diese Willkür füllte nächtelange Diskussionen.
Der Belehrte reagierte dennoch trotzig.
„Du musst einfach gut sein im Handwerk, dann geht es.“ Jakob besah sich demonstrativ sein bisheriges Arbeitsergebnis im Licht der Schusterkugel. Das war ihm offenkundig wichtiger als Darstellungen, die er als überflüssige Belehrungen empfand.
„Jakob! Viel zu viele fallen bei den Prüfungen durch, obwohl sie wunderschöne Schuhe oder Stiefel fertigen. Das Material ist außerdem viel teurer als früher. So wie alles in den letzten Jahren teurer geworden ist“, stellte der Altgeselle fest und löste langsam seine Hand von der Schulter des Jüngeren.
„Das sind nun einmal die zünftigen Regeln. Seit vielen Hundert Jahren ist das so. Ich bleibe dabei: Wer sein Handwerk kann, der wird auch was.“
Der erfahrene Gesellensprecher erhob sich vom Hocker, schüttelte mit dem Kopf und musste leicht grinsen. „Verzeih bitte! Aber so, wie du dich hier verkaufst, erinnerst du mich an eine Figur, die ich als Trödel-Händler vom Jahrmarkt kenne. Wenn du so redest, dann bist du kein Meister Jakob. Wahrlich nicht! Du bist ein billiger Jakob. Wie der vom Jahrmarkt!“
Zufrieden mit seinem so gezeichneten Bild, setzte sich der Hildesheimer wieder auf den winzigen Hocker. Er wirkte plötzlich wieder ernster, und auch der Arbeitende widmete sich mit emsiger Miene seinem entstehenden Schuh.
„Auch du, Jakob, sprichst doch immer wieder mit unseren wandernden Gesellenbrüdern“, unternahm der Altgeselle einen weiteren Versuch, Jakob zu erreichen. „Wann immer du das tust, erfährst du viel von den Problemen, die alle Brüder belasten.“
„Ich trinke mit den Brüdern immer gerne ein paar Bier. Da geht es meistens sehr lustig zu, wenn das Gelage nicht gerade erzwungen ist. Probleme gibt es da selten.“
Jakob hatte das Gefühl, mit diesem Hinweis etwas Humoriges gesagt zu haben. Aber ein Blick ins Auge des Älteren sagte ihm sofort, dass er diesmal falsch gelegen hatte.
„Bier? Bier oder auch Branntwein wird es sein, was dir in unserer Herberge die Sinne getrübt hat. Wenn ein Feuer für Gerechtigkeit in deinem Herzen lodern würde, wäre mir das allemal lieber. Begreife es doch endlich: Immer mehr Brüder werden niemals Meister werden! Und immer mehr von uns sind von Arbeitslosigkeit bedroht. Unsere Zukunft liegt vollkommen im Dunkeln.“
„Wieso denn?“ Auch Jakob runzelte seine hohe Stirn in tiefe Falten. Ein wenig Neugierde konnte er aber nicht verbergen.
„Ich nenne dir ein Beispiel“, antwortete der Bärtige. „Die meisten von uns haben seit ihrer Zeit als Stift nichts anderes gelernt, als Schuhe zu fertigen. Stell dir einmal vor, wir können nicht Meister werden und finden auch keinen, der uns anstellt. Arbeiten wollen wir aber trotzdem so, wie wir es gelernt haben. Dann werden wir von uniformierten Polypen als so genannte Bönhasen verfolgt, weil wir still und heimlich auf den Dachböden arbeiten und dann wie Hasen gejagt werden. Selbst unsere Gesellenbrüder verfluchen uns dann als unliebsame billige Konkurrenz, die ihnen Arbeit und Brot wegnimmt.“
Der erfahrene Schuhmacher wusste aus Erfahrung nur zu gut, was es bedeutete, wenn ehemaligen Gesellen das Handwerk gelegt wurde und manche von ihnen sogar ins Kittchen kamen, wie sie Gefängnisse zu nennen pflegten.
Die Schilderung des Hildesheimers löste eine kurze Stille aus. Jakob bediente weiter Hammer und Sohle, diesmal mit der Kraft des standhaft Trotzigen.
„Handwerk hat nun einmal Recht und Brauchtum. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen!“
Der Altgeselle kratzte sich die grau werdenden Haare und schüttelte nur noch den Kopf.

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